Reflexion rund um «Sorge»

Wozu, wann und wie trägst du Sorge?  von Florian Häfner

Unsere Welt ist ein komplexes Geflecht aus Beziehungen, in dem jedes Lebewesen mit anderen Lebewesen verwoben ist. Wir sind mehr denn je in der Lage, die Auswirkungen unseres Handelns auf die Umwelt und auf andere Menschen auf der ganzen Welt zu erkennen. Doch wie gehen wir mit dem, was wir wahrnehmen und erkennen um? In einer Zeit, in der die ökologische und soziale Krisen sich immer deutlicher zeigen, gewinnt der Begriff der Sorge an Bedeutung und stellt unsere Beziehungsfähigkeit in Frage. Ignorieren wir die Hilferufe der Welt um uns herum, oder schenken wir ihnen Gehör? Begegnen wir dem Lebendigen mit ehrlichem Interesse, oder ist es eher das schlechte Gewissen, Mensch zu sein, das uns zur Verantwortung zieht? Sind wir mit der Sorge schlicht überfordert, weil wir nicht wissen, ob das, was wir tun, einer lebendigen Welt dient?

Im Unterwegssein mit Menschen in diversen Naturräumen finde ich mich mit Dilemmas dieser Art immer wieder konfrontiert. So gibt es Stimmen, die mich davon abhalten, an unberührten Waldplätzen eine Feuerstelle einzurichten und für eine grosse Gruppe zu kochen, weil der Raum von Pflanzen und Kleintieren besetzt ist. Und es gibt Stimmen, die mir dieses Leben ausdrücklich erlauben, weil ich den Menschen als Teil davon verstehe und weil auch wir einen Ort brauchen, um uns zu nähren und zu schlafen. Welche Sorge im Sinne des Umsorgens ist berechtigt und richtig?
Ähnlich geht es mir, wenn ich Jugendliche begleite, die auf eine Intervention meinerseits mit Aggression reagieren. Ziehe ich mich zurück, um dieser Aggression nicht ausgesetzt zu sein und sie in Ruhe einordnen zu können? Oder gehe ich eine Konfrontation ein, verhandle, setze meine Grenzen aktiv, weil die Jugendlichen dies von mir einfordern? Welche Bedürfnisse umsorge ich? Eindeutigkeit fehlt häufig und lässt sich mit Gesetzen und Regeln selten finden. Haltung bezüglich einer Sorge, im Sinne des ‘Umsorgens’, kann helfen, in dieser Vieldeutigkeit der Prozessbegleitung zu navigieren.

Für mich ist Sorge ein Schlüsselbegriff, der unser Verhältnis zur Welt, zu anderen Menschen und zur Umwelt definiert. Ein Begriff, der nach neuen Wegen des Zusammenlebens und somit nach unserer Haltung fragt. Diese Reflexion gründet auf den unten zitierten Artikel und ist als Versuch zu lesen, eine sorgende Grundhaltung zu skizzieren.

systemisch – Die Trennung von ‘human’ und ‘natural’ führt zu zwei Verblendungen. Erstens stellt sie den Menschen, im Sinne des kartesianischen Dualismus, über die Natur. Mit dem Ziel, Technologien zu entwickeln, die Natur zu kontrollieren resp. zu dominieren. Zweitens nimmt sich der Mensch aus der Verantwortung für die ‘natürlichen’ Veränderungen auf dieser Welt.
Eine systemische Haltung sieht die Welt von mehr als nur menschlichen Beziehung belebt. Oder wie Villa ausführt: «Kein Mensch ist eine Insel, und kein Mensch verfügt vollständig über sich». Eine systemische Haltung anerkennt die Komplexität einer lebendigen Welt und versteht Veränderungen auf der Welt als «Effekte der Konstellation menschlicher und nicht-menschlicher Beziehungen und Kräfte». Das bedeutet auch, dass Leben nicht ohne Sorge durch ‘Andere’ gelingen kann. Sorgen wird im Bewusstsein unserer eigenen Involviertheit und der Involviertheit von allem, was dieses Setting mitgestaltet gelernt. Ich verstehe mich als Teil eines Mobilés, das sich durch mein Tun und mein Nicht-Tun mitbewegt und damit abhängig ist.

bescheiden – Die eigene Wahrnehmung und die eigene Wirklichkeit führen zu einer subjektiven Landkarte der Welt. Ich gestalte diese Welt also in einer Unwissenheit mit und akzeptiere die Grenzen meines Tuns und Wissens.
Als eine:r von vielen Teilnehmer:inner, Macher:innen und Gestalter:innen des Lebens auf dieser Welt, finde ich meinen Platz. Ruddick verwendet den Begriff der Demut, als «eine metaphysische Haltung, die man einer Welt gegenüber annimmt, über die man keine Kontrolle hat». Weiter spricht sie von Heiterkeit als «eine Bereitschaft, weiterzumache, zu akzeptieren, und das Leben willkommen zu heissen trotz seiner Beschaffenheit». Damit beschreibt sie sehr passend, dass Sorge Ausdruck einer Haltung ist, Unzulänglichkeiten und Widersprüche auszuhalten. Eine solche Haltung kann der Problematisierung Noddings, «dass wir es nicht fertigbringen, unsere Gefühle, Konflikte, Hoffnungen und Ideen, die letztlich unsere Entscheidungen beeinflussen, miteinander zu teilen», möglicherweise antworten. Unzulänglichkeiten und Widersprüche, die sein dürfen, ermöglichen eher, über das zu sprechen, was mich motiviert und berührt, als dass ich mich rechfertige. In einer sorgenden Haltung geht es vielleicht viel eher ums bescheidene Da-Sein, als ums selbstbewusste Wissen, was das ‘richtige’ Tun ist.

verletzlich – Ein Strukturmerkmal des Lebendigen ist, dass es stirbt. Es stirbt, was getötet wird, was nicht mehr genügend Energie zur Selbsterhaltung hat, oder was so stark verletzt wird, dass es sich nicht erhalten kann oder keinen Zugang zu erhaltenden Ressourcen hat. Sorge hat also etwas mit Erhaltung zu tun. Die Angst, nicht umsorgt zu sein, kann mit der Angst, sich nicht erhalten zu können verglichen werden. «Jedes Wesen will für jemanden sorgen und umsorgt werden», beschreibt Noddings die Wichtigkeit der Sorge.
Auch wenn die Sorge wehrlos ist, gegen das Leiden und Wirken der Zeit, so ist sie zentral in der Erhaltung des Lebendigen. In der Frage, wie etwas zu erhalten ist, sind «Konflikte und Schuld unvermeidliche Risiken des Sorgens». Kummer und Belastung können die Folge sein. Eine verletzliche Haltung erlaubt, dass Sorge fehlerhaft ist. Sie hört dem Lebendigen zu. Und sie beugt der Suche nach Technologien, die Erhaltung garantiert, vor.
Wenn ich mir in den Finger schneide, schleife ich nicht alle Messer stumpf. Ich meide sie vielleicht eine Zeit lang und beobachte, wie sich die Wunde an meinem Finger, dank Zeit, Ruhe und Pflege, schliesst.
Verletzlich-sein ist auch mit der Akzeptanz verbunden, Teil eines Lebendigen Systems zu sein. Da wo sich der Mensch über die Natur setzt, verliert er auch die Verbindung zur Verletzlichkeit eines lebendigen Systems. Eine sorgende Haltung erhält, ohne zu kontrollieren. Sie ist verletzlich und verbindet sich mit dem Lebendigen.

herzlich – Das Herz wird in der Neo-konfuzianischen Denktradition als der Ort beschrieben, der vor allem zur «Steuerung und Führung eines eigenen Lebens im Lichte übergeordneter sozialer Ziele und Ordnungen der Existenz aller Dinge» dient. Es kann als der Ort verstanden werden, der alles Lebendige wahrnimmt und innerhalb dieser Komplexität von Motiven, Wünschen und Gepflogenheiten einen Umgang findet. Hark verwendet den Begriff der Zärtlichkeit und beschreibt sie als «die Kraft, die Welt als Ganzes wahrzunehmen und dafür Sorge zu tragen».
Herzlich-sein kann heissen, Geist/Herz zu öffnen, eigene Erwartungen oder Vorstellungen loszulassen und hinzuhören. Wahrzunehmen was ist, sich nicht selbst ins Zentrum zu setzen. Aus dieser Haltung erwächst eine Sorge, «die nicht gemäss fixen Regeln, sondern aus Zuneigung und Achtung handelt». Eine Sorge der Beziehungen, «in der wir als ‘Sorgender Teil’ aus Liebe oder natürlicher Neugier reagieren».

zuhörend – Hören beschreibt einen kognitiven Prozess. Einfach gesagt hören wir mit den Ohren und verstehen mit dem Kopf. Zuhörend-sein meint mehr als nur über die Ohren wahrzunehmen. Es beschreibt eine Haltung, in der die Sinne im hier und jetzt offen sind, um sich von dem berühren zu lassen, was da ist. Ich trete mit lebendigen Dingen in Beziehung und nehme deren Sein, Lebensweisen, Bedürfnisse und Wünsche wahr. «Und obwohl ich die Realität des anderen niemals vollständig erfassen kann, versuche ich, es zu tun. Wenn ich mich in diese Art von Beziehung mit dem anderen befinde, wenn die Realität des anderen eine reale Möglichkeit für mich wird, dann sorge ich».
Im zuhörend-sein liegt auch eine Verantwortung. Wenn ich zuhöre, besteht die Möglichkeit, dass ich berührt werde. Was mich berührt, macht mich betroffen und entsprechend sorge ich dafür. Hier liegt auch ein mögliches Dilemma. Hark schreibt: «Wer bemerkt, wie die Welt zerbricht, ist aufgerufen, sie neu zu bauen». Wie gut höre ich noch, wenn ich ständig am Bauen bin?

In vielen Teilen der Welt sind es nicht in erster Linie Haltungen wie ‘bescheiden-sein’, ‘verletzlich-sein’, ‘herzlich-sein’ oder ‘zuhörend-sein’, die belohnt werden. Überheblichkeit, Unverwundbarkeit, hart oder laut, um mögliche Antonyme zu nennen, bekommen oft mehr Aufmerksamkeit. Entsprechend gibt es viele «gute Gründe», sich nicht an einer sorgenden Haltung zu orientieren.
Im Unterwegssein mit Gruppen in Naturräumen und in der Arbeit mit Jugendlichen ist es andersrum. Die skizzierten Haltungen sind es, die mir einen Boden und eine Richtung geben. Komme ich an einen unberührten Waldplatz und richte mich mit einer Gruppe ein, so leben wir in einer Art und Weise, die sich der Verletzlichkeit dieses Raumes bewusst ist. Entsprechend sensibel verhalten wir uns und versuchen, wenige Spuren zu hinterlassen. Die nomadische Tradition, mit der wir bei planoalto unterwegs sind, unterstützt diese Beziehung.
Auch mit jugendlichen Personen in Situationen der Konfrontation geben mir diese Pfeiler der Sorge Halt. In Aushandlungsprozessen mit Jugendlichen werden Unzulänglichkeiten und Widersprüche im Verhalten sichtbar. Werden diese nicht bewertet, sondern erhalten ihren Platz, ermöglicht das eine Offenheit, die Themen, um die es in der Begleitung geht, zu entdecken. Das ist eine Grundlage, um gemeinsam weiterzugehen.

 

Literaturverzeichnis
Common Worlds Research Collective (2020). Learning to become with the world: EducaTon for future survival. Paper commissioned for the UNESCO Futures of EducaTon report.

Hark, S. (2021). Gemeinschag der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohibition. Berlin: Suhrkamp

Noddings, N. (1993). Warum sollten wir uns ums Sorgen sorgen?. In H. Nagl-Docekal und H. Pauer-Studer, Jenseits der Geschlechtermoral. Beiträge zur feministischen Ethik. Frankfurt a.M.: Fischer

Park, A. & Reichenbach, R. (2022; in Druck). Die Kultur des Sorgens und die Bildung des Herzens.

Ruddick, S. (1989). Müterliches Denken. In B. Schön, Emanzipation und Muterschaft: Erfahrungen und Untersuchungen über Lebensentwürfe und mütterliche Praxis. Weinheim: Juventa-Verlag, S. 33-53.

Villa, P.-I. (2020). Corona-Krise meets Care-Krise – Ist das systemrelevant?. Leviathan. 48(3), 433-450

Florian Häfner 

Bei planoalto seit 2020. Sozialpädagoge, Erlebnispädagoge, Erwachsenenbildner und Outdoor Guide, Schulsozialarbeiter, Studium in Erziehungswissenschaften i.A. 

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