Best practice aus der Sprachbegleitung junger Erwachsener

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Dieser Artikel ist erschienen in der Fachzeitschrift erleben & lernen, 1/2006.

Freitagabend 19.00 Uhr, die Fernsehapparate sind an. Der Regionalsender strahlt den Beitrag und das Interview mit den Passage-Teilnehmer*innen vom Vormittag aus… Lisa, 16 Jahre: „Ich habe gelernt vor Leute hinzustehen. Also früher, wenn ich vor eine Gruppe hätte hinstehen müssen, wäre ich einfach still geblieben, wäre rot geworden und hätte am liebsten losgeheult…“ Jetzt lacht sie direkt vom Bildschirm ins Wohnzimmer.

Best practice aus der Sprachbegleitung junger Erwachsener

Rita, 17 Jahre: „Ich hatte früher gar kein Selbstvertrauen. Jetzt weiss ich, dass auch ich etwas wert bin. Ich fühle mich richtig gut.“ Auch Rita strahlt, sie hat allen Grund dazu, ihre lange Suche endete bereits erfolgreich, sie hat einen Praktikumsplatz und nachfolgend eine Lehrstelle gefunden. Ivan, 16 Jahre: „Man lernt, auch sich selber etwas zu verändern, nicht dass sich die anderen für dich verändern müssen!“

Passage – Herausforderung und Chancen im Übergang

Das Motivations- und Übergangssemester Passage bietet Stellen suchenden Jugendlichen einen herausfordernden Arbeitsrahmen, der sie in ihrer beruflichen Orientierung und Integration nachhaltig unterstützt.

In Gruppen mit zum Teil mehr als vierzig Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 16 und 20 Jahren arbeiten wir auf geeignete Anschlusslösungen, wie Langzeitpraktika, Lehrstellen oder Arbeitsplätze hin. Die verschiedenen curricularen Programmteile umfassen Bereiche der Schulung, der Arbeitspraxis und legen einen Schwerpunkt auf Persönlichkeitsentwicklung. Der Umgang mit den jungen Menschen ist geprägt von der systemischen Grundhaltung von planoalto. Unsere sprachliche Begleitung orientiert sich an systemisch lösungsorientierten Ansätzen.

Was wirkt?

Der Aspekt der best practice bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Frage, was wirkt. Natürlich gibt es in unserem Alltag auch ganz viele Beispiele, die es nie bis zu diesem Artikel bringen, weil es schlicht und ergreifend einfach nicht wirkt. Glücklicherweise gibt es auch andere…

Wichtiger als unsere erfolgreichen Interventionen, linguistischen Paraden, bildhaften Metaphern und Inputs aus dem toten Winkel sind mir die Interpretationen der jungen Menschen, wenn sie in ihren eigenen Worten unsere gemeinsame Arbeit, ihre Entwicklung und ihren Lernerfolg beschreiben. Wenn sie beispielsweise im Leadership neuen Gruppen aus der Metaposition die Wirkung und den Sinn von Vernetzung, erlebnispädagogischen Intensivtrainings und Biografiearbeiten erklären.

In diesen Momenten zeigt sich Wirkung unserer Sprache, sie dringt durch die Worte und leuchtet aus den Augen der Jugendlichen, klingt logisch und banal, wie das Normalste der Welt. Doro erklärt an einer Veranstaltung den versammelten Eltern und Freunden den Sinn der Biografiewoche: „Durch das Erzählen unserer Geschichten konnten wir uns gegenseitig, aber auch uns selber mit unseren Geschichten besser verstehen. Wir erzählten die Geschichten aus verschiedenen Perspektiven und bemerkten so, wie sich die gleichen Geschichten so sehr unterschiedlich anhörten. Auf diese Weise können wir den Rucksack, den wir tragen, etwas ausräumen und erleichtert weitergehen…“

Wir konstruieren uns unsere Welt – auch über Sprache

Ausgehend von der konstruktivistischen These, dass wir durch die Sprache unser Bild von der Welt und damit auch uns in dieser Welt aktiv mitkonstruieren, legen wir besonderen Wert nicht bloss auf den erzählten Inhalt, sondern auch auf die Art und Weise, wie jemand etwas erzählt. Es macht einen Unterschied, wie ich meine Geschichte erzähle und welche Aspekte ich dabei ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücke. Bei Doro, die eine langjährige Heimkarriere hinter sich hatte und schon in jedem Sumpfloch mehrfach steckte, führte dies zu einem ergänzten Selbstbild, das ihre Fähigkeiten für sich zu schauen, ihr Organisationstalent und ihre Führungsqualitäten als wertvolle Ressourcen anerkannte. Es gelang ihr, die reine Opfergeschichte zu einer Wachstumsgeschichte umzuschreiben.

Samuel hat als letzter seiner Gruppe eine Stelle gefunden, sein letzter Programmtag, ist bereits der erste Tag einer neuen Gruppe. Er erklärt: „Ich war ein ziemlich fauler Sack als ich hierhin kam. Aber heute Morgen habe ich meinen Lehrvertrag unterschrieben. Ich gebe euch nun das Wort weiter, das ich wohl am häufigsten gehört habe: Vollgas!“

Was der Jugendliche hier etwas plakativ benennt, ist ein wichtiger Grundsatz unserer Arbeit. Dabei geht es um die Gestaltung von Arbeitsräumen und einem Klima, welche die Menschen mit ihrem Wesen ernst nimmt und ihnen dabei auch eine Ausrichtung gibt bzw. sie auf ihrem selbstbeauftragten Weg begleitet. So entstand für Samuel eine Atmosphäre, in der in ihn vertraut und ihm eine „Vollgas“- Kraft zugestanden wurde. Diese implizierte Ressource konnte sich aber Schritt für Schritt manifestieren.

Zu-muten

Das Schlagwort repräsentiert hier die Haltung, dem Jugendlichen auf der Ebene einer Ressource zu begegnen anstatt auf der „fauler Sack“- Ebene. Ein wichtiger Punkt dabei war auch die Authentizität. Samuel hörte das Wort „Vollgas“ nicht bloss von uns Leitern, er erlebte auch die Bedeutung in positivem Sinne, bei einem Arbeitsprojekt, als wir einen Metallbauauftrag fristgerecht erfüllen mussten, bei diversen Programmteilen, die ein fixes Datum hatten, beispielsweise beim selbst vorbereiteten Eltern- und Freundesabend etc. Aus dem Auftrag, in unserer Arbeit nach der sprachlichen „best practice“ zu forschen, ergaben sich einige Gespräche mit Teamern und auch Ex- Teilnehmern*innen vom Programm.

Schnell war klar, dass das wichtige Fundament der Sprache unsere Haltung ist. Bei der Unterschiedlichkeit unserer Mitarbeiter/innen und den individuellen Eigenheiten, sind hier doch die Wurzeln unserer Ressourcen- und Lösungsorientierung, der spirit von planoalto klar spürbar. Wer so intensiv mit Menschen arbeitet, mit Geschichten und Schicksalen aber auch Verhalten konfrontiert ist, muss dies auch gerne tun, muss Menschen mit ihren Eigenheiten und Möglichkeiten mögen.

Ich habe dennoch versucht einige Thesen auszuwählen und sie anhand von Fallbeispielen zu erläutern. Sprachliche Begleitung ist erfolgreicher, wenn sie die Ressourcen der Menschen anspricht. Paul: „Sie haben uns rausgeworfen und wir durften erst wieder kommen, als wir ihnen fünf gute Gründe liefern konnten, weshalb sie uns behalten sollen. Ich fand das damals voll daneben. Mir sind auch nicht einfach so fünf gute Gründe eingefallen, aber seit damals, als ich vor der Gruppe dann diese Gründe aufzählte, ist es mir irgendwie ernst!“ Auch bei diesem Beispiel gelang es der Leitung, den Jugendlichen trotz des schwierigen Verhaltens auf einer Ressourcenebene abzuholen, denn die Frage nach den fünf guten Gründen führte ziemlich direkt zu den Fähigkeiten und Kompetenzen des jungen Mannes.

Die Macht der Worte

Sprachliche Begleitung ist erfolgreicher, wenn in Positivformulierungen gesprochen wird. Die direkte Wirkung der Sprache wurde mir bei einem klassisch erlebnispädagogischen Setting einmal mehr deutlich. Ich war unterwegs mit einer Gruppe Jugendlicher beim Klettern. Daniel, ein zappeliger Typ, den man wegen seiner lauten Stimme oft schon auf grosse Distanz kommen hörte, bewegte sich am Fels nur sehr zaghaft. Er äusserte den Wunsch zu klettern abwechselnd zu den Bekenntnissen seiner Angst. Nach mehreren Stunden Annäherung und Gewöhnung an die Felsplatten, wagten wir uns an eine Mehrseillängentour. Freude, Angst und der Wille weiter zu steigen, brachte er in der Felswand emotionsgeladen zum Ausdruck.

Nach einer längeren Blockade in der Felswand stieg ich parallel zu ihm hoch und begleitete ihn dann Schritt für Schritt und Zug um Zug weiter seinem Ziel entgegen. Zusätzlich zu den Sicherungsseilen und -karabinern begann ich nun ein sprachliches Führungsseil zu knüpfen. Noch nie zeigte sich mir die Kraft lösungsorientierter Sprache so direkt… Bei den Worten „du schaffst das!“ schaute er mich ruhig an und kletterte weiter, bei Äusserungen wie „kein Problem“ begann er sofort sich zu verkrampfen und am ganzen Körper zu zittern. Negationen und Vermeidungen liessen ihn erstarren, Positivformulierungen und Ermunterungen hingegen ermöglichten es ihm, neuen Mut zu schöpfen und weiterzuklettern. Die sechste Seillänge kletterte Daniel im Vorstieg.

Fragen, fragen, fragen 

Sprachliche Begleitung ist erfolgreicher, wenn wir die „richtigen“ Fragen stellen. „Was muss passieren, damit sich diese Standortbestimmung für sie gelohnt hat?“ Oft sind es ganz einfache Fragen, die den Unterschied ausmachen. Fragen, die eine Lösung implizieren, die zu einem Kontext oder Perspektivenwechsel führen, Fragen die den Menschen Fähigkeiten unterstellen. In Gesprächen erlebte ich sehr oft, dass sich Stimmungen schlagartig verbesserten, wenn ich die „was muss passieren, damit es sich gelohnt hat?“-Frage, die Wunderfrage oder andere Techniken der systemischen Gesprächsführung angewendet habe. Plötzlich gibt es Bereitschaft, Aha-Erlebnisse oder die beschriebenen Stimmungsschübe.

Menschen dort abholen, wo sie sind

Sprachliche Begleitung ist erfolgreicher, wenn sie Menschen in ihrem (Sprach-)Milieu abholt und dieses schrittweise erweitert. Die Kurssprache im Passage ist Deutsch. Trotzdem und genau deshalb verwende ich hin und wieder Worte wie „hayde, idemo, çok güzel etc.“ um (türkische) Jugendliche anzusprechen. Oft erhöht sich dabei ihre Konzentration schlagartig oder es entstehen spannende Gespräche. Gerade bei Jugendlichen ist es hilfreich, sich in ihrer sprachlichen Welt auszukennen, um mit ihnen interagieren zu können. Dabei geht es nicht um den platten Versuch einer gekünstelten Annäherung, sondern vielmehr darum, ihre Sprache zu respektieren und zu würdigen – sei das nun eine Fremdsprache oder ein Slang. Diese Haltung erlaubt es den Jugendlichen auch die Sprache der Leitung zu respektieren.

Lösungen fokussieren

Sprachliche Begleitung ist erfolgreicher, wenn sie Lösungen fokussiert. Tobi kommt schon wieder zu spät. Die Frage warum liegt schon auf der Zunge, und Tobi hat mindestens fünf plausible, mehr oder weniger gute Antworten im Köcher … „Tobi was werden Sie zukünftig unternehmen um pünktlich zu sein?“ Warum-Fragen führen uns oft auf Irrwege, wir verstricken uns dann in Argumentationen, Konflikte und vermeintliche Ursachenbekämpfung. Die lösungsorientierte Theorie geht davon aus, dass wir die Ursachen eines Problems nicht kennen müssen um es zu lösen. Uns interessiert viel eher das Wie. Es ist lohnender die Energie in mögliche Lösungsszenarien zu investieren und mit Tobi herauszufinden, was er alles unternehmen kann, damit er pünktlich ist.

Schlüssel-Wörter 

Sprachliche Begleitung ist erfolgreicher, wenn sie Schlüsselwörter aufgreift. Bei einem Standortgespräch erzählt Susi wütend von ihrer ehemaligen Chefin, dieser Ziege, die sie andauern anmotzte. Sie zeigt sich uneinsichtig und will von eigenen Anteilen nichts wissen. Erst als ich bemerke, dass motzen ja eigentlich das gleiche sei wie meckern und Ziegen ja nun mal nicht anders können als zu meckern, beginnen sich ihre Gesichtszüge aufzuweichen und ihr huscht ein Lächeln übers Gesicht. Wir kommen ins Gespräch über Ziegen und später auch über Susi und ihre Anteile.

Schlüsselwörter können Schlüssel sein für die sprachlichen Welten der Menschen. Wenn wir die Situation mit Susis Worten beschreiben, fühlt sie sich verstanden und ist bereit, mehr von sich zu erzählen. Konkrete Situationen zu schildern ist oft ziemlich komplex und/oder verfälschend vereinfacht. Viele Aspekte beeinflussen die Wahl und Formulierung von Interventionen. Die Persönlichkeiten der Interaktionspartner beeinflussen entscheidend den Prozess jeglicher Kommunikation. Einige Kriterien scheinen mir allerdings generell wichtig.

Akzeptanz + Konfrontation = Entwicklung

Mich begleitet bei der Arbeit folgende Formel: Akzeptanz + Konfrontation = Entwicklung. Bei Interventionen handelt es sich oft um Konfrontation. Klarheit und Direktheit wirken hier am erfolgreichsten. Entscheidend für die Umsetzung der Balance zwischen Akzeptanz und Konfrontation ist die explizite Unterscheidung von der Person und ihrem Verhalten. „Ich schätze sie als Person und mag sie. Dieses destruktive Verhalten jedoch finde ich schwierig, das geht so nicht…“

Die Akzeptanz und Annahme der Person findet wohl zu 90% auf nonverbaler Ebene statt. Es ist wichtig, sie mitunter auch sprachlich auszudrücken. Wir leben und bewegen uns in einer sprachlichen Welt, und was wir denken und sagen konstruiert diese Welt massgeblich mit. Das Gefühl, von einem Kontext angenommen und wertgeschätzt zu sein, lässt Menschen sich entfalten, – wachsen.

Im Passage versuchen wir den jungen Menschen mit einem ehrlichen Interesse zu begegnen, mit einem scharfen Blick für (versteckte) Ressourcen und einem offenen Ohr für ihre Ziele, mit Ernsthaftigkeit und viel Humor. Die Auftrennung in Persönlichkeit und Verhalten unterstreicht die Flexibilität und die Modalität des veränderbaren und lernbaren Verhaltens. Anstatt, ich bin eine Chaotin, entsteht die eine Form wie, momentan gestalte ich meinen Arbeitsplatz chaotisch. Wenn wir in dieser Situation noch eine Ressource entdecken, (z.B. das Genie herrscht über das Chaos, denn es braucht viel Organisationstalent um im Chaos leben zu können…), wird sich die Qualität der Kommunikation grundlegend verändern.

Die Schulung von Sprachbewusstsein ist ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Kriterien wohlformulierter Ziele beispielsweise besprechen wir bereits in der ersten Woche. Dann geht es für die Jugendlichen darum, die gemeinsame Arbeit durch die Selbstbeauftragung auch zu bezeugen. Wenn es darum geht, Bewerbungsgespräche zu üben, Briefe zu schreiben, Vorträge zu halten, sind Wirkungen und Botschaften von Wörtern immer wieder Thema. Unterschiede wie „ich möchte gerne ein Praktikum machen oder ich muss noch ein Praktikum machen“, wie „absolvieren oder mich bereichern…“ sind unreflektiert oft kaum bewusst, haben aber eine grosse Wirkung.

Mit Sprache bewusst gestalten

Klar ist, egal welches pädagogische Setting wir gestalten, die Sprache ist ein ganz wichtiges und zentrales pädagogisches Element. Das Praxisfeld im Motivationssemester Passage reicht von herkömmlichen Schulungs- und Unterrichtsformen über Arbeitstrainings und erlebnispädagogische Settings bis hin zu Öffentlichkeitsprojekten und Leadership. Von der Einszueins-Begleitung bei Praxiseinsätzen und bei persönlichen Meilensteinen, über Kleingruppen-Coachings bei themenspezifischen Lerninhalten. Von Förderkursen und Trainings bis hin zum Teamteaching. Vom Solo bis zur Grossgruppenmoderation mit bis zu 60 jungen Erwachsenen – und dies im In- und Outdoor.

Unsere Gruppen setzen sich etwa zur Hälfte aus Schweizer Teilnehmer/innen und zur anderen Hälfte aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen fremdsprachiger Herkunft zusammen. Die Kurssprache wechselt zwischen Schriftdeutsch und Mundart.

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