Andrea: «Florian, im letzten Modul sind wir auf die Feldwahrnehmung zu sprechen gekommen, wie wir sie von der Aufstellungsarbeit her kennen. Du hast die spannende Frage gestellt, ob diese Feldwahrnehmung eine Form des “generative listening” ist, wie Otto Scharmer es im Presencing und der Theorie-U beschreibt. Wie bist du darauf gekommen und was könnte das bedeuten?»
Florian: «Ja, dieser Eindruck entstand, weil Otto Scharmer das ‚generative listening’ als eine Ebene der Aufmerksamkeit, als ein ‘sich aus dem Zentrum nehmen’ und den ‘Raum halten’ für etwas, das in die Welt will, beschreibt. Als Wahrnehmen und Realisieren einer sich abzeichnenden Zukunft.
Feldwahrnehmung kann als Kompetenz beschrieben werden, in der es um den ‘Blick aufs Ganze’ geht. Als eine Fähigkeit, ‘schwache Signale’ wahrzunehmen, die für das System von Bedeutung sein können.
Sowohl beim generative listening als auch bei der Feldwahrnehmung geht es also darum, sich mit der eigenen Wahrnehmung aus dem Zentrum eines Systems zu bewegen und Raum zu geben, für das, was entstehen will.
Ich weiss nicht, was das zu bedeuten hat. Ich könnte mir vorstellen, dass Menschen, die nach Formen wie Neues in die Welt kommt, forschen, zur gemeinsamen Erkenntnis gelangen, dass für Neues, Leere eine Voraussetzung ist. Das wiederum beschreiben viele Künstler:innen in ihrem Erschaffungsprozess. Dabei Frage ich mich, wie leer diese Leere wirklich ist? Was denkst du zu Parallelen zwischen Aufstellungsarbeit und der Theorie U?»
Andrea: «Wir arbeiten ja immer wieder mit dem Prinzip des “leeren Raumes”. Im Lexikon Erlebnispädagogik haben Habiba Kreszmeier und ich dazu geschrieben»: …Ein noch so einfacher Raum, der als Bühne gestaltet ist, erhält eine besondere Dichte als Raum und eine Dichte in der Zeit. Alles, was auf der Bühne geschieht, ist besonders. Eine Bühne kann eröffnet werden zur Entwicklung von Ideen, Zielen usw., die dann, ausgesprochen und bezeugt, zusätzliches Gewicht erhalten. Die prozessorientierte Leitungshaltung bildet eine Grundbedingung für die gute Regie von Prozessen im leeren Raum.
«Hier beschreiben wir also die “Bühne” als einen leeren Raum und eine Bühne ist in unserer Arbeit z.B. eine Waldlichtung, ein Stück Flussufer oder aber die Ecke eines Zimmers. Es geht bei der Leere also vielleicht weniger darum, dass darin nichts (Materielles) vorhanden ist, sondern eher um eine Offenheit und die Bereitschaft Platz für etwas zu schaffen, das sich hier zeigen will. Im Unterschied zu einem klassischen Bühnenstück, wo die Handlung eingeübt und bekannt ist oder dem Improvisationstheater, wo die Impulse aus der lebendigen Interaktion der Akteur*innen, ihrer Spontaneität und Kreativität entspringen, nutzen wir bei der Aufstellungsarbeit eben unsere Fähigkeiten der Feldwahrnehmung. Wir stellen uns in den Dienst des vorgebrachten Anliegens und öffnen uns für auftauchende Impulse und die daraus entstehenden Lösungsmöglichkeiten. Hier heisst Leere für mich, dass wir uns nicht auf eigene Konstrukte und Interpretationen einschiessen, sondern offen bleiben für das, was sich aus dem Miteinander und den Bezügen dazwischen zeigen will.
Feldwahrnehmung und die daraus entstehenden Veränderungsimpulse können in diesem Sinne also tatsächlich als eine Form von “generative Listening” betrachtet werden. Bei einer Aufstellungsarbeit “hören” wir dabei als Stellvertreter*innen sowohl auf die Impulse unseres eigenen Körpers als auch auf die Bewegungen und Impulse aus den Konstellationen und den Veränderungen der anderen Repräsentant*innen. Zudem gibt es bei dieser Arbeit Phänomene, bei denen wir auch Informationen “hören”, deren Ursprung und Herkunft nicht so klar zu lokalisieren sind. Z.B. wenn Repräsentant*innen Formulierungen finden, die wortwörtlich anderen Menschen zuzuordnen sind oder z.B. unwissentlich ein körperliches Leiden einer bereits verstorbenen Person wahrnehmen. Diese Aspekte der Feldwahrnehmung sind zwar empirisch belegt, sie bleiben aber in unserer nach wissenschaftlicher Logik suchenden Welt etwas spooky.
Aber auch im generative listening, wie Otto Scharmer es beschreibt und wie Arawana Hayashi es im Social Presencing Theatre praktiziert, tauchen solche Phänomene auf. Wenn nämlich Ideen für Lösungen für Probleme nicht aus der Verbindung mit den Erfahrungen der Vergangenheit entstehen sollen, sondern aus der Verbindung mit dem bestmöglichen Potenzial einer wünschenswerten Zukunft…
Ich würde in dem Zusammenhang nun weniger davon sprechen “das Ganze im Blick zu haben”, sondern eher eine möglichst umfassende Offenheit anstreben. Das stimmt dann auch wieder eher mit deiner Formulierung überein, “sich selbst mit der eigenen Wahrnehmung aus dem Zentrum heraus zu lösen…”
Hilft das weiter?»
Florian: «Ja, das hilft mir. Deine Ausführungen zeigen nochmals gut auf, dass es sowohl im generative Listening, als auch in der Feldwahrnehmung darum geht, sich selbst aus dem Zentrum zu nehmen und zu hören resp. wahrzunehmen, was dabei entstehen will.
In der Auseinandersetzung mit ‘Leere’ tauchen bei mir weitere Fragen auf, die ich nicht beantworten kann: Wie leer ist der Raum, wenn er als Bühne aufgeladen ist? Wenn er begleitet ist? Wenn er einem bestimmten Thema dient? Bei mir entsteht der Eindruck, dass Leere nur vermeintlich existiert. Auf jeden Fall geht uns der Stoff für weitere Gespräche nicht aus, das ist das Schöne daran.»
Inspirationen zu Parallelen zwischen Aufstellungsarbeit und der Theorie U:
Arawana Hayash. Social Presencing Theater. The art of making a true move. 2021, Presencing Institute New York
David Bohm. Die Implizite Ordnung. Grundlagen eines ganzheitlichen Weltbildes. 2018, Crotona Amerang
Lothar Schäfer. Versteckte Wirklichkeit. Wie uns die Quantenphysik zur Transzendenz führt. 2004, Hirzel Stuttgart
Lynne McTaggart. Das Nullpunkt-Feld. Auf der Suche nach der kosmischen Ur-Energie. 2007, Goldmann München
Otto Scharmer. Theorie U. 2020, Carl Auer Heidelberg
Otto Scharmer. Essentials der Theorie U. 2019, Carl Auer Heidelberg