Mit einem Kunden 24 Stunden in den Bergen verbringen – auf was lässt sich ein Berater da ein? Was macht die Besonderheit dieser Beratungsform aus? Worauf ist zu achten, damit sie gelingt? Und was sagen die Kundinnen und Kunden dazu?
Das Unterwegssein in der Natur formt den Charakter. Einfachheit und Unmittelbarkeit sorgen für Respekt und Bescheidenheit und fördern gleichzeitig Entschlossenheit und Tatkraft. Die Natur ist Ort des Rückzuges und Schauplatz des Kräftemessens an eigenen Grenzen. Ruhige Naturbegegnungen ebenso wie Gipfelerlebnisse berühren und brennen sich tief in unser Gedächtnis ein, sie bereichern unseren Erfahrungsschatz und machen das Leben lebenswert. Ebendiese Wirkkraft der Naturerfahrung mache ich mir als Berater zu Nutze, wenn ich mit meinen Mandanten in die Natur gehe . . .
Seit gestern Mittag bin ich mit Tom, einem Coachee unterwegs in den Bergen, im Gepäck einige dringende Fragen aus seinem aktuellen Leben – Musterwiederholungen, Stellenwechsel, Karriereplanung. 24h-Coaching ist ein spezielles Format in der Beratung, selbst in der Beratung in der Natur. Und doch komprimiert es eine ungeheure Wirkungskraft und ein grosses Potenzial auf einen einzigen Tag. Es bietet die Gelegenheit sich eine Erdumdrehung lang einer speziellen Fragestellung zu widmen.
«Unter freiem Himmel verrauchen unsere Konflikte und Probleme viel rascher und ich fühle mich freier, gewisse Dinge anzusprechen. Es fühlt sich in unseren eigenen Räumen manchmal so an, als würden die Probleme an der Decke kleben bleiben.»
Die Gegend durch die wir wandern, hat Tom ausgewählt, er war als Kind oft mit seinem Vater zum Wandern hier. Der biografische Bezug unterstützte unseren Beratungsprozess. Die aktuelle Situation hat wohl doch mehr mit ihm und seiner Geschichte zu tun, als ihm lieb ist.
Den Übernachtungsplatz hat Tom selbst gefunden, er hat ihn sich mit einfachen Mitteln eingerichtet. Ich habe meine Plane etwas abseits aufgespannt. Platzwahl und -gestaltung boten dabei sehr passende Metaphern zur Fragestellung des Coachees. Unser Gespräch kreiste rund um seine Auswahlkriterien und Präferenzen, seine Blickwinkel und die Vorzüge verschiedener Plätze. Tom entdeckte Parallelen zwischen seinen bisherigen Jobs und dieser kargen Landschaft. Als erste Reaktion auf diese Auseinandersetzung entschied er, sein Camp wieder abzubrechen und an einer etwas weniger exponierten Stelle neu aufzubauen. Mit dieser einfachen Handlung durchbrach Tom, wie sich später herausstellte, ein ziemlich hartnäckiges Muster und er bezeichnete dies später als einen für ihn entscheidenden Schritt. Das draussen-unterwegs-Sein bietet viele bildhafte Anknüpfungspunkte für den Beratungsprozess. Wir philosophierten auf unserer kleinen Reise etwa über die wichtigsten Gegenstände in unseren Rucksäcken und über unnötigen Ballast, über das selbst gewählte Tempo des Gehens und darüber, woran wir uns orientieren. Vor dem Kochen des Abendessens bekam Tom die Aufgabe für sich ein Feuer zu machen und dieses während einer guten Stunde zu nähren und zu erhalten. Dazu lud ich zur Reflexion ein, sich mit dem eigenen Feuer auseinanderzusetzen. Bis spät in die Nacht tauschten wir uns anschliessend aus und arbeiteten an seinen Themen weiter.
Als ich am Morgen aufwachte, brannte bereits wieder ein Feuer und mein Coachee sprudelte vor Erkenntnissen und Tatendrang. Wir suchten einen Platz mit Ausblick und begannen mit Naturmaterialien einen Handlungsplan zu gestalten. Schritt für Schritt visualisierte Tom seine getroffenen Entscheidungen und gab den für ihn wesentlichen Werten und Entscheidungsprämissen einen gebührenden Platz. Für eine Verankerung ist gesorgt und ich werde Tom sicher auch noch das eine oder andere Foto dieser 24 Stunden als Erinnerung mitgeben können.
Unsere Reise nähert sich bereits wieder dem Ende. Wir sind unterwegs ins Tal, unterwegs in die Arbeits- und Alltagswelt und dorthin, wo die getroffenen Entscheidungen ihre Wirkung entfalten werden. Und die Erde dreht sich weiter. . .
Für Beratungssequenzen in die Natur zu gehen, liegt eigentlich auf der Hand. Zugegeben, es kann manchmal etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen, es gibt Wetter, Störfaktoren und Umgebungen, die das Arbeiten beeinträchtigen und man kann oft nicht einfach dasselbe draussen machen, was man für eine Indoor-Sequenz vorbereitet hat. Beratung in der Natur lohnt sich aber, bietet viele zusätzliche Möglichkeiten, holt Menschen an einem anderen Ort ab und führt oft zu sehr kreativen und inspirierenden Erkenntnissen und Lösungen.
Manchmal bin ich in einem Outdoorcoaching nach nur einer halben Stunde an dem Punkt, wo ich sonst erst nach mehreren Sitzungen lande.
«Die Supervisions-Sequenzen, die wir draussen machen, erlebe ich als intensiver. Ich bringe mich als ganzen Menschen ein und nehme die anderen auch verstärkt so wahr. Für mich stellen diese Vormittage eine grosse Bereicherung dar», meldete mir kürzlich eine Kundin einer regelmässig stattfindenden Teamsupervisionsgruppe zurück. Ein anderer meinte: «Unter freiem Himmel verrauchen unsere Konflikte und Probleme viel rascher und ich fühle mich freier, gewisse Dinge anzusprechen. Es fühlt sich in unseren eigenen Räumen manchmal so an, als würden die Probleme an der Decke kleben bleiben.»
Beratung in der Natur kann sehr niederschwellig gestaltet sein, als Spaziergang mit einer Mandantin. Und bereits das gemeinsame Gehen wird das Setting komplett verändern. Die gemeinsame Ausrichtung, die durch das Gehen entsteht, prägt den Gesprächsverlauf, Redepausen werden in der Regel länger ausgehalten, es gibt weniger direkten Blickkontakt, dafür zeigen sich nonverbale Signale über den Atem und die Bewegungen der Gesprächspartnerin. Auch wenn grundsätzlich fast überall eine Spaziergang-Beratung möglich ist, eignen sich ruhigere und naturnahe Gegenden, Stadtparks, Gärten etc. am besten. Die Erkenntnisse der Sozialraumorientierung zeigen, wie sehr die gewählte Umgebung den Verlauf von Gesprächen beeinflussen kann (Haller, D./Hinte, W./Kummer, B. 2007). Es ist deshalb im Sinne des Empowerments eine gute Möglichkeit, die Mandantin «vorangehen» zu lassen.
Mit Teams eignen sich Spaziergänge zwar auch, doch wird es ab etwa vier Personen schwierig, sich im Gehen gemeinsam zu unterhalten. Für kollegiale Feedbacks oder andere Zweier-Gespräche können Spaziergänge aber durchaus passend sein. Für Arbeiten im Plenum eignen sich Rastplätze, Waldlichtungen, Aussichtspunkte u. ä. Es gibt unzählige methodische und didaktische Möglichkeiten mit Teams und Gruppen outdoor zu arbeiten. Eine Besonderheit in der Arbeit mit und in der Natur ist sicherlich der Einsatz von Metaphern – sowohl von Handlungsmetaphern als auch von geografischen Metaphern. So kann sich ein Mündungsgebiet verschiedener Flüsse anbieten, um mit einem Team an Schnittstellen zu arbeiten und eine Brücke oder ein Passübergang kann der Inspiration zu den anstehenden Veränderungen einer Organisationseinheit dienen.
Die Natur spiegelt den Menschen unverblümt. Wie man in den Wald ruft . . . Bei Beratungsprozessen in der Natur finden sich Mandanten immer wieder in Situationen, die sie als ihre Muster beschreiben. Oft geschieht das sehr rasch und in einer hohen Intensität. So kann es durchaus passieren, dass ich in einem Outdoorcoaching nach nur einer halben Stunde an dem Punkt bin, wo ich sonst erst nach mehreren Sitzungen lande. Die Natur bietet aber nicht nur die Wirkung eines Vergrösserungsspiegels, sondern inspiriert auch gleich durch eine Vielzahl möglicher Lösungen und natürlicher Vorgehensweisen. Sie zeigt die relevanten Herausforderungen deutlich auf und lädt dazu ein, einen guten Umgang damit auszuprobieren.