Spätestens seit auch Schüler mit der Diagnose «Burn-out» in Kliniken eingewiesen werden, scheint der Begriff der «schulischen Auszeit» etabliert. Auch Lehrkräfte nutzen zusehends Auszeiten: Es werden Time-outs genommen, wenn der Druck steigt, wenn eine Entwicklung eine ungewollte Richtung einnimmt. Wie können in oder nach Krisen Auszeiten wirksam genutzt, gestaltet und begleitet werden?
Kinder und Jugendliche durch Krisen zu begleiten ist ein Knochenjob und ich habe großen Respekt vor all den Pädagogen und Lehrkräften in sozialen Institutionen und Schulen, die täglich in die (Persönlichkeits-) Bildung und die Zukunft dieser jungen Menschen investieren. Mir selbst hat diese Arbeit vieles abverlangt, sie hat mich im Gegenzug aber auch bereichert, mich gelehrt und persönlich weiter gebracht.
Auch heute, wenn ich junge Menschen bei Kriseninterventionen begleite, Lehrkräfte coache oder Teams aus der Sozialpädagogik supervidiere, erlebe ich das Wechselbad der Gefühle und die fachliche Herausforderung stets von neuem. Mit der erlernten Methodenkompetenz, dem lösungsorientierten Sprach-Repertoire, dem gewachsenen Erfahrungsschatz und der inneren Ruhe habe ich heute einen Umgang gefunden, mit dem ich die Kinder und Jugendlichen wertschätzend abholen und nachhaltige Lösungen initiieren kann. Aber auch heute, und auch das haben mich diese jungen Menschen gelehrt, bleibt das Scheitern ehrlicherweise eine Möglichkeit.
Mit 21 wurde ich als Lehrer in eine kleine Schweizer Gemeinde gewählt und übernahm eine sogenannte Kleinklasse B/D. Mir war eine bunt gemischte Gruppe von zwischenzeitlich 18 Kindern zwischen 10 und 17 Jahren zugeteilt; Kinder und Jugendliche mit Lerndefiziten bis hin zur Lernbehinderung und verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler mit Teilleistungsschwächen. Es war zugegebenermaßen ziemlich naiv von mir, wie ich zu dieser Stelle gekommen bin. Ich hatte wohl schon früh ein ausgeprägtes Bedürfnis, anderen zu helfen, und mir lag stets viel daran, Menschen auch in persönlichkeitsbildenden und sozialen Wachstumsschritten zu begleiten. Ich nahm die Stelle nicht zuletzt deshalb an, weil ich Mitgefühl mit den Schicksalen dieser Kinder hatte und sie ernsthaft unterstützen wollte.
Meine philanthropen Bestrebungen wurden jedenfalls rasch auf die Probe gestellt und meine Initiation in den Lehrberuf war unmittelbar und ziemlich hart. Bereits am ersten Morgen beschimpften mich einige Schüler aufs Übelste. In der Klasse gab es Mobbing, Schulverweigerung und Regelverstöße jeglicher Art. Anstatt auf hilfebedürftige Opfer der Gesellschaft zu treffen, fand ich ein Rudel ungehorsamer, gewalttätiger, zerstörerischer Gören vor, die vieles wollten – aber sicher nicht meine Hilfe.
Irgendwie habe ich diese Einstiegsphase überlebt und konnte daran wachsen. Und irgendwie ist auch die Arbeit mit der Klasse ganz passabel herausgekommen. Es gab zwar noch über das ganze erste Jahr Mobbingfälle, gewalttätige Auseinandersetzungen, die unterschiedlichsten kleineren und größeren Delikte, und doch veränderte sich allmählich das Klima in der Klasse. Ich investierte in die Eltern- und Umfeldarbeit beinahe gleich viele Stunden wie in die Klassenführung, entwickelte für alle Schüler individuelle Arbeitspläne, stampfte Theaterprojekte, Lesenächte und Klassenlager aus dem Boden und erkämpfte mir bei Konflikten und Verweigerungen Schritt für Schritt mehr Boden und gewann allmählich das Vertrauen und verdiente mir den Respekt meiner Schülerinnen und Schüler. Sie erlebten mich als zuverlässig und engagiert. Das war wohl ein wichtiger Schlüssel.
Neben viel positiver Energie, starken Nerven, breiten Schultern (ich war früher mal Landesmeister im Judo) und etwas Glück konnte ich im Nachhinein einige wichtige Erfolgsfaktoren eruieren:
Durch die Auseinandersetzung mit Kindern und Jugendlichen in schwierigen Situationen erschloss sich mir ein interessantes Wirkungsfeld, ich spezialisierte mich mit verschiedenen Weiterbildungen und intensivem Selbststudium auf die Begleitung von Übergängen, auf Krisenintervention, auf die Führung und Gruppendynamik von Systemen und die Begleitung persönlicher Wachstumsschritte. Ich gründete und leitete eine der ersten Timeout Schulen der Schweiz, begleitete stellensuchende junge Erwachsene mit besonderen Bedürfnissen in den Arbeitsmarkt und koordiniere noch heute ein Kompetenzzentrum für erlebnispädagogische Interventionen in Schulen und sozialen Institutionen.
Schulen sind dazu da, Kindern zu Erfolgen zu verhelfen. Für Lehrkräfte gilt nichts anderes. Diese Erkenntnis ist zwar banal, aber bei manchen Kindern ist das eben sehr anspruchsvoll. Wer seine Schüler nur aus der Perspektive eines Fachlehrers kennt, hat wenig Gelegenheit versteckte oder außerschulische Qualitäten seiner Schützlinge kennen und schätzen zu lernen. Die Fragmentierung der Lernwelten und die einseitige Fokussierung der Schule auf die «Kernfächer» produzieren Krisen am laufenden Meter. Die Schule hat sich darauf spezialisiert, Ziele vorzugeben. Wenn wir an den Ressourcen eines Menschen interessiert sind, müssen wir auch seine Ziele ernst nehmen. Und dazu müssen gerade Kinder erst mal lernen, auf sich selbst zu hören, anstatt nur nachzureden. Am ehesten entsteht diese Kompetenz in einer Atmosphäre von Wohlwollen, Zuverlässigkeit und Zutrauen von Seiten der Erwachsenen. Jesper Juul pointiert »Die Qualität einer Beziehung liegt immer in der Verantwortung der Erwachsenen.»
Lehrkräfte müssen in der Lage sein, tragfähige professionelle Beziehungsangebote zu schaffen. Sie erreichen dies durch ehrliches Interesse, Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit, durch Neugier an Qualitäten des Gegenübers und durch ein extra schlechtes Kurzzeitgedächtnis im Sinne von: Ein neuer Tag ist auch eine neue Chance. Denn kaum etwas ist so prägend wie das (selbsterfüllende) Bild, das ich von einem Menschen habe. Die lösungsorientierte Gesprächsführung ist ein »Handwerk» gerade für die Begleitung von Menschen in Krisen. Diese sprachlichen Zugänge aktivieren Ressourcen, stärken Hoffnung und machen Unwahrscheinliches möglich. Sie bauen Brücken auch zu kritischen Eltern und ermächtigen selbst hilflose Helfer. Die Schulung in solchen Ansätzen und Techniken gehört heute sinnvollerweise in jede Grundausbildung zu den unverzichtbaren Weiterbildungsbausteinen von Lehrkräften und Pädagogen. Der Erfolg, zu dem junge Menschen geführt werden, lässt sich als Gefühl der Selbstwirksamkeit beschreiben: »Ich habe Einfluss auf mein Leben und kann mit meinem Handeln zu Lösungen und zur Entwicklung beitragen.«
Wer sich in den unterschiedlichsten Situationen und Tätigkeiten kennenlernt und gemeinsam Herausforderungen und Erfolge erlebt, wird einander besser verstehen und auch miteinander umgehen können. Erlebnispädagogische Settings erweitern den gemeinsamen Erfahrungshorizont und verdichten die gemeinsame Geschichte. Erfolge aus den Unternehmungen tragen Früchte im Schulzimmer und ebnen den Boden für nachhaltige Entwicklung. Nomadische Naturerfahrungen, wie sie die Systemische Erlebnispädagogik propagiert, sind gerade für Kinder und Jugendliche in Krisen ein geeigneter Zugang, weil sie diese bei ursprünglichen Themen und Bedürfnissen abholt. Der Umgang mit dem Kochfeuer wird zu Metapher für den Umgang mit der eigenen (vielleicht auch destruktiven) Energie. Die Platzwahl und der Zeltaufbau mit einfachen Mitteln stellt das Thema des eigenen Platzes in der Klasse, in der Familie, im Leben ins Zentrum. Die Unternehmungen bieten die Möglichkeit, Herausforderungen anzunehmen und zu meistern oder sich einen Schutzraum aufzubauen und erst mal gut für sich zu sorgen.
Handlungsorientierte Methoden und der andauernde «Ernstcharakter» bieten sich geradezu an, um die unterschiedlichsten Talente und Fähigkeiten bei sich und anderen zu entdecken und einzubringen. So wirken erlebnispädagogische Unternehmungen, in welche die persönlichen Ziele der Teilnehmenden eingebettet sind, wie Gewächshäuser für neue Lösungen.
Kinder und Jugendliche in Krisen zu begleiten ist emotional anstrengend und äußerst kräfteraubend. Deshalb ist es für Pädagogen umso wichtiger, auch sich selber ernst zu nehmen. Es liegt in der Natur der Krise, dass etwas auf dem Spiel steht. Für das betreffende Kind wie auch für die begleitende Pädagogin ist es bei latenten als auch bei akuten Krisen oft gleichermaßen streng und kräfteraubend.
Es braucht Abstand und persönliche Reflexion um zu erkennen: «Das Problem macht nur ein Promille des Schülers aus.» Und: »Schwierige Schüler sind Schüler in Schwierigkeiten.« Die Fokussierung der Aufmerksamkeit prägt die Wirklichkeit und kann deshalb in beide Richtungen ausstrahlen. Damit Pädagogen und Lehrkräfte ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf Ressourcen der Schüler richten und ihre Energie wirklich in Lösungen investieren können, brauchen sie Distanz zum Geschehen, emotionale Blitzableiter und Gelegenheit, angestauten Arger auch körperlich loszuwerden.
Schule bedeutet auch Muße – und Mussefähigkeit müssen Pädagogen sich immer wieder erschließen. Gerade in Krisen braucht das Wichtige Platz und Zeit und manchmal auch den Vorrang vor dem Dringenden. Krisen verengen das Zeitempfinden und lassen vermeintlich wenig Wahlfreiheit. In dieser Phase lässt sich der Umgang mit Krisen nicht wirklich trainieren. Dazu braucht es Reflexionsräume, Selbst-Erfahrung, eingeübte Routinen und Techniken wie etwa autogenes Training. Hier dient der entlehnte Begriff des Time-outs aus dem Sport. Die persönliche Auszeit kann genutzt werden für das Abreagieren und zur Ruhe kommen, das Festlegen der Taktik und die Absprache der nächsten Spielzüge. Ich kann hier einiges richten, aber es ist nicht möglich die Sportart neu zu erlernen, in der ich gerade geprüft werde.
Gerade in Krisen braucht das Wichtige Platz und Zeit und manchmal auch den Vorrang vor dem Dringenden.
In vielen sozialen Institutionen und Schulen ist die Kollegiale Beratung die professionelle Ergänzung und praktikable Vorstufe zur externen Beratung. Der gemeinsame Blick auf verfahrene Situationen erweitert die Blickwinkel und erschließt die blinden Flecken der eigenen Interpretationen. Wie gelingt es Lehrteams, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Kollegen ihre Karten auf den Tisch legen und einander gegenseitig unterstützen können? Die Nützlichkeit dieses Formates hängt ab von der gemeinsamen Kultur und Ausrichtung. Auch wenn Lästern durchaus psychohygienische Aspekte hat, sollte kollegiale Beratung aber grundsätzlich von einer wertschätzenden Atmosphäre geprägt sein. Und auch wenn gemeinsames Jammern zwischenzeitlich erleichtern kann (im Sinne von: geteiltes Leid ist halbes Leid), braucht kollegiale Beratung eine Lösungsorientierung, damit sie wirksam wird. Dann kann durchaus auch (über sich selbst) herzlich gelacht werden.
Noch immer ist der Begriff des Scheiterns bei uns verpönt. Im angelsächsischen Raum hingegen gehören zu einer aussagekräftigen Biografie auch Reinfälle und Scheiter-Erfahrungen. Idealerweise ist die Gruppe überschaubar und die einzelnen Mitglieder schätzen sich auch in ihrer Unterschiedlichkeit. Oft ist es nützlich, sich regelmäßig zu treffen. Es braucht eine Vertrauensbasis und die Gewissheit eines gemeinsamen Nenners, z.B. der Lebensqualität in der Institution. Die Freiwilligkeit, einen Fall einzubringen, ist hilfreich und es ist zuweilen gut, auch Erfolgsgeschichten zu teilen.
Pädagoginnen scheitern und oder »verbrennen» am sichersten und schnellsten, wenn sie in Krisen allein gelassen werden. Das Selbstbild des Einzelkämpfers bestätigt sich und es gibt Krieg, wo alle nur verlieren können. Rückhalt meint aber nicht bedingungsloses Einverständnis und unreflektierte Freipässe. Gerade in Krisen ist es wichtig, reflektiert zu werden und sich selbst zu reflektieren. Führungskräfte können dazu einen sicheren Raum bieten, sollen sich wertschätzend einmischen und interessieren, sollen herausfordern und entlasten. Im Zweifelsfall ist es hilfreicher, ein Kind für eine Zeit fremdzuplatzieren und eine Pädagogin zu stützen, auch wenn sie selbst einen großen Beitrag zur Krise leistete. Nicht um ihr Recht zu geben, sondern um sie in der Krise zu entlasten und dann anschließend mit ihr an den persönlichen Themen zu arbeiten.
Für Führungsebenen gilt allerdings bezüglich Krisen dasselbe wie für Pädagogen: Der Umgang mit Krisen kann in der Krise nicht gelernt werden. Dazu braucht es Vor- und Nachbereitung, die Auseinandersetzung mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen, die Schärfung der eigenen Werte und daraus resultierend mögliche Verhaltensabläufe. Alle Beteiligten müssen sich klar darüber werden, welchen Auftrag sie sich in diesen schwierigen Situationen auferlegen, sie müssen ihre Haltung überprüfen, ihre Rahmenbedingungen und Grenzen definieren. Und sie müssen schließlich auch dazu stehen, welche Aufgaben sie nicht mehr bewältigen können: Mit welchen Grenzüberschreitungen kann ich als Pädagoge, können wir als Institution noch umgehen und wo sind auch unsere Grenzen überschritten? Wie viel Aufwand (Engagement, Arbeitsstunden, Sitzungen, Elterngespräche, Nerven etc.) bin ich, sind wir gewillt und in der Lage zu investieren? Wie stark und wie lang dürfen Unbeteiligte unter der Situation leiden?
Rückhalt braucht Standfestigkeit und diese wiederum braucht einen geebneten Boden. Diese Arbeit müssen Institutionen in ruhigen Zeiten leisten. Die Begleitung von Kindern und Jugendlichen in Krisen, so herausfordernd sie auch war, hat mich vieles über mich selbst gelehrt und meine Kompetenz, Krisen ernst zu nehmen und als Chancen zu nutzen, mich selbst ernst zu nehmen und mir Auszeiten zu gönnen und mein Gegenüber ernst zu nehmen und ihm seine Möglichkeiten zuzugestehen.