Im Hier. Und jetzt?

Präsenz suchen – Perspektiven finden

Turbulente Zeiten. Ein Sturm fegt durchs Leben. Wir liegen im Schlafsack und noch ist es wohlig warm und trocken. Alles schreit nach Veränderung, doch wir wollen es nicht hören. Dann kommt dieser Moment, wo wir ganz im Hier sind und den Impuls wahrnehmen. Wo uns klar wird, dass sich etwas ändern muss an der Situation. Verbunden mit aller Ungewissheit darüber, was wir tun können, ob wir uns trauen und was wir uns zumuten wollen. Vielleicht auch mit der Angst vor den Konsequenzen. Angst vor dem weissen Blatt in unserer Biografie, das da vor uns liegt. Angst vor dem kreativen Freiraum, der sich anbietet und den es zu füllen gilt. Und jetzt? Wagen wir den Schritt ins Ungewisse? Sind wir bereit zu springen, um vielleicht abzuheben?

 

Im Buch Der unendliche Augenblick schreibt Natalie Knapp: “Übergänge sind eine Herausforderung. (…) Wir überschreiten eine Schwelle vom bereits Bekannten ins Ungewisse. (…) Übergänge sind Lebensphasen, in denen wir verunsichert sind und uns instabil fühlen, aber zuweilen auch ungeahnte Kräfte entwickeln. Denn genau diese Zeiten gehören zu den kostbarsten Ereignisräumen des Lebens, weil sie ein schöpferisches Potenzial bergen, das sich nur in diesen begrenzten Zwischenräumen aktivieren lässt.”

Draussen unterwegs und lebendig sein

Der Gang in die Natur, sie zu beobachten, zu erforschen und Analogien zu erkennen, birgt Gelegenheit, um Inspiration und Unterstützung für unsere eigenen Übergangssituationen zu finden. Die Natur, mit ihren räumlichen und jahreszeitlichen Übergängen. Mit den Verwandlungen im Kleinen, von der Knospe zur Blüte oder von der Raupe zum Schmetterling, und den Veränderungen im Grossen, der gesamten Biosphäre und der Evolution des Lebens. Kein anderes System ist so lange und so vielfältig erprobt mit stetigem Wandel wie die Natur. Zeigt sich die bunte Vielfalt der Natur nicht oft genau in den Übergängen, zum Beispiel am Waldrand und in Hecken? Erfahren wir ihre Lebendigkeit nicht gerade besonders durch die Veränderungen im Jahreszyklus? Doch was macht eigentlich den Unterschied, ob wir uns mitten im Sturm ohnmächtig oder ganz besonders lebendig fühlen?

Lebendig sein könne man nicht für sich alleine, sagt der deutsche Soziologe Hartmut Rosa, und weiter: “Lebendig werde ich erst, wenn das Andere da draußen mit mir so in Beziehung tritt, dass ich durch diese Beziehung selbst verändert werde, dass ich mich dabei und darin verwandle.” Lebendig fühlen wir uns, wenn wir in Resonanz treten mit dem Gegenüber und der Natur. Eben da, wo wir ganz im Hier ankommen und in eine kreative Beziehung gehen können.

Begleiten und bewegen in der Systemischen Erlebnispädagogik

In der Systemischen Erlebnispädagogik bewegen wir uns draussen in der Natur in einem inspirierenden Raum. Wir wählen diesen Raum bewusst aus, treten in Interaktion mit ihm und gestalten ihn. Wir nutzen diesen Raum, um im Hier anzukommen, uns selbst zu begegnen und uns mit dem auseinandersetzen, was gerade lebendig ist. Wir schulen unsere (Selbst-)Wahrnehmung und üben uns in Geduld. Wir fühlen uns geborgen am Feuer und aufgehoben in einem grösseren Ganzen unter dem Sternenhimmel. Wir werden eingeladen, unsere Schutzhüllen abzulegen und uns als Mensch einzubetten in die grossen Zyklen des Lebens. Das Draussen-Sein in und mit der Natur schafft einen gesunden Rahmen, in dem Impulse für Veränderungen auftauchen und ergriffen werden können und Entwicklung stattfinden kann. Die Methoden der Systemischen Erlebnispädagogik, das (Zusammen)-Leben draussen und Rituale sind unterstützende Werkzeuge, um Menschen in Bewegung zu bringen und durch Veränderungsprozesse zu begleiten. Die Natur bietet den unterstützenden Rahmen und kann gleichzeitig Lehrmeisterin sein im Umgang mit komplexen Herausforderungen  in persönlichen, sozialen oder gesellschaftlichen Veränderungsprozessen.

Von der Angst zu scheitern

Doch Übergänge bringen auch Risiken mit sich, sind mit Ängsten verbunden. Ja, es braucht Mut, aufzubrechen und den ersten Schritt ins Ungewisse zu wagen. Was, wenn es ein Schritt in die falsche Richtung ist? Was, wenn wir scheitern und danach (oder dazwischen) alles nur noch schlimmer wird? Hartmut Rosa wird da ziemlich deutlich und sagt: “Wer sein Leben unter Kontrolle hat, ist tot.” Leben ist Bewegung. Und wir können uns nur frei bewegen, wenn wir bereit sind, Fehler zu machen. Lebendigkeit ist das Gegenteil von sicherer Routine.

Und gerade hier stolpern wir über eine kulturelle Herausforderung. Wir dürfen keine Fehler machen oder gar an einer Aufgabe scheitern. Geschätzt wird, was funktioniert. Was oder wer nicht funktioniert, wird optimiert. Schon Krankheit und Alter werden in unserer Kultur häufig als Scheitern empfunden. Wir blenden aus, dass dies alles natürlicher Teil des Lebens ist. Das führt dazu, dass wir in bekannten und “sicheren” Abläufen erstarren. Und wir wissen immer weniger, wie es sich anfühlt, lebendig zu sein.

Da hilft wieder mal der Blick in die Natur. Aufblühen und Vergehen. Fülle und Verlust. Sturm und Sonnenschein. Mücke und Elefant. Eine Vielzahl von Gegensätzen lässt sich beobachten. Und sie sind einfach da, als Teil des grossen Ganzen. Sie werden nicht bewertet in gut oder schlecht, effizient, richtig oder falsch. Das Raubtier geht “all in”, wenn es seine Beute jagt. Der Kirschbaum blüht in voller Pracht, ohne sich die Frage zu stellen, ob ein später Frost im Frühling den Totalverlust bedeuten könnte. Die Katze spielt mit der Maus. Jeder Vorgang ist sinnerfüllt, ohne Sinnhaftigkeit zu wollen.

Zum Potenzial im kreativen Freiraum

Ja, wir setzen uns einem gewissen Risiko aus, wenn wir etwas unternehmen da draussen in der Natur. Wir können nass werden beim überraschenden Sommergewitter. Wir können uns verirren auf dem Weg. Wir können im Abstand zum Alltag Muster und Prägungen erkennen – und einen Impuls zur Veränderung wahrnehmen. Wir können in der Entschleunigung im Hier ankommen und in der Präsenz im Augenblick Perspektiven finden. In der Natur kommen wir in Bewegung und setzen uns dem Risiko aus, plötzlich vor der Frage zu stehen: “Und jetzt?”

Veränderung oder Stillstand? “All in”, ein bisschen, oder lieber doch nicht? Besitzen wir die Freiheit der Raupe, welche sich absichtslos verpuppt und der Metamorphose hingibt? Wollen wir früh scheitern, um schnell zu lernen, wie C. Otto Scharmer zu sagen pflegt? Sind wir bereit, diesen manchmal unbequemen und zuweilen schmerzhaften Prozess bewusst zu erleben und genau dadurch zuzulassen, dass sich sein schöpferisches Potenzial entfalten kann?

Natalie Knapp lädt ein, eine andere Sicht auf diese herausfordernden Phasen des Lebens zu gewinnen: “Übergänge sind kreative Freiräume, (…) in denen das Leben ein Vielfaches seiner üblichen Kraft entfaltet und mit besonderer Intensität spürbar wird. Übergänge sind die poetischen Zonen des Lebens. Wie wir mit ihnen umgehen, hat einen großen Einfluss auf unsere Lebensqualität. Denn oft zeigt sich in solchen Zeiten die Tiefendimension unserer Seele, das Potenzial, das sich in den darauffolgenden ruhigeren Jahren stabilisieren und entfalten kann.”

Von der Akzeptanz ins Handeln kommen

Es geht nicht darum, möglichst rasch einen schönen und friedvollen Zustand herzustellen. Erst durch die radikale Akzeptanz dessen, was ist, kommen wir in der Gegenwart an.

Der Philosoph und spirituelle Lehrer J. Krishnamurti beschreibt diesen Zustand so: “Ich habe nichts gegen das, was geschieht.” Radikale Akzeptanz bedeutet, dass wir uns von Erwartungen und Vorstellungen lösen. Dass wir uns mit Vertrauen und Hingabe für das Öffnen, was lebendig ist, ohne es zu werten oder weghaben zu wollen. Das mag nicht unseren Erwartungen entsprechen und sich möglicherweise unangenehm oder gar schmerzhaft anfühlen. Doch statt sich gegen den Moment zu wehren, können wir das Potenzial dessen suchen, was sich gerade zeigt.

Und einmal angekommen im Hier sind wir genau an dem Punkt, an dem wir handlungsfähig werden und die Verantwortung für unsere Situation übernehmen können. Die Frage “Und jetzt?” ist der Schlüssel zum Tor der Selbstermächtigung. Sie bringt uns dazu, Verantwortung zu übernehmen, für uns zu sorgen, mit der Welt in Verbindung zu treten und durch unser Handeln in Bewegung zu kommen.

Zum hoffnungsvollen Zauber des Frühlings

Und sobald wir in Bewegung sind, entsteht unser einmaliger Weg. Schritt für Schritt und hoffnungsvoll ins Ungewisse. “Denn die Schönheit des Frühlings ist nicht von der Ernte des Sommers abhängig. Schon deshalb nicht, weil sie so unmittelbar der Freude der Hoffnung Ausdruck verleiht. Die Hoffnung ist eine reale Kraft mit einer lebenswichtigen Funktion: Sie spiegelt das Licht der Zukunft in die Gegenwart und weist uns so einen gangbaren Weg.”, schreibt Natalie Knapp.

Wir öffnen die Augen. Der Sturm ist vorbei. Schon blinzelt die Sonne durch die Blätter. Wir kriechen aus dem nassen Schlafsack und strecken unsere Glieder. “Wird schon wieder trocken”, denken wir. Und sieh da! An einem Ast baumelt ein Kokon. Tatsächlich: Da knabbert ein Schmetterling an seiner sicheren Hülle. Kriecht hinaus und entfaltet seine bunten Flügel. Bewegt sie sanft und wagt den Sprung ins Nichts. Doch seine Flügel tragen ihn. Und mit Leichtigkeit tanzt er der Sonne entgegen.

Epilog: Über die Geduld

von Rainer Maria Rilke

 

Man muss den Dingen
die eigene, stille,
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann.
Alles ist Austragen – und
dann Gebären…

 

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.

Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…

 

Man muss Geduld haben
mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

 

Forsche jetzt nicht nach den Antworten,

die dir nicht gegeben werden können,

weil du sie nicht leben kannst.

Und es handelt sich darum, alles zu leben.

 

Lebe jetzt die Fragen!
Vielleicht lebst du dann allmählich,
ohne es zu merken,
eines fernen Tages
in die Antworten hinein.

Autoren: Michael Stucky und Michael Schoch

Fachartikel zur Werkstätte vom 21. Juni 2025

Ausbildungsgang: Systemische Erlebnispädagogik SEP 36

Quellen

Natalie Knapp – Der unendliche Augenblick – Rowohlt Verlag – 2015

Hartmut Rosa – Sich mit der Welt verändern – In: DIE ZEIT Nr. 14 – 1. April 2015

Eckhart Tolle – Eine neue Erde – Arkana Verlag – 2015

Martin Vosseler – Reifen – Vossolar Verlag – 2018

Otto Scharmer – Theorie U – Carl-Auer Verlag – 2020

Jiddu Krishnamurti – https://www.lifeandlove.de/krishnamurti/ – abgeurfen am 01.05.2025

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