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erschienen im: Online-Magazin human nature, No.1, August 2011. 

Unsere Tochter Sara wird bald zwei Jahre alt, sie ist lebendig, schon fast etwas feurig, sie ist aufgeschlossen und voller Lern- und Entdeckungsfreude. Wahrscheinlich ist sie ja ein Kind wie alle anderen und doch ist sie für uns natürlich etwas ganz Spezielles.

Momentan trägt sie eine dicke blaue Beule zur Schau. Es schmerzt schon beim Hinsehen, die Krokodilstränen nach dem Sturz steigerten mein Mitleiden nur noch mehr. Aber Sara hat eben ihren eigenen Kopf. Sie rennt, wann sie will und klettert überall hoch. Sie ist mutig und voller Vertrauen in ihre Umwelt – zugegeben, ganz zu unserer Freude. Doch da gibt es natürlich auch die (inneren) Stimmen, die sagen: „Halt, das ist doch zu gefährlich“, „das kannst du noch nicht“, „Vorsicht!“ Sara kümmert dies wenig.

Ihr Radius ist viel grösser, als wir es oft für möglich halten, sie läuft munter drauf los. Sie springt von Anhöhen hinunter oder ins Wasser und vertraut darauf, dass wir sie auffangen. Die Komfortzone unserer Tochter ist, wenn man so will, immer mal wieder grösser als die ihres Umfeldes – und Erziehung wird zum Wagnis.

umfallen und aufstehen

Empowerment nennt sich der pädagogische Schlüsselbegriff demzufolge eine Atmosphäre von Wohlwollen und Vertrauen die Basis und eine ermutigende, mitunter auch zumutende Beziehungsgestaltung der Weg zur Ermächtigung des Menschen und zur Stärkung der Selbstwirksamkeit sind. Diesem Konzept stimme ich natürlich zu und ich vermittle es sogar als Lehrtrainer. Die Schulung eines Ressourcenblicks, der ermöglichenden Begleitung und der Zurückhaltung in der Führung liegt mir besonders am Herzen.

Gerne zitiere ich Oscar Wilde, der pointierte: „Erfolg ist … einmal mehr aufstehen als hinfallen“. Soviel zur Theorie. Nun wurde es mir aber selten deutlicher vor Augen geführt, welchen Preis ich in der Begleitung zu bezahlen bereit sein muss und was es wirklich bedeutet loszulassen, wie jetzt wo ich diese Beule bewundere. Autsch! Mir ist bewusst, dass meine Tochter sich auch deshalb so frei bewegt, weil wir ihr dies ganz konkret ermöglichen und sie anfeuern, wenn sie z.B. vom Sprungbrett ins Freibad springt oder mit dem viel zu grossen Kickboard durch den Vorgarten saust. Mir ist klar, dass ich selber das wilde Spiel mit ihr am meisten geniesse. Ebenso bewusst wird mir aber in diesem Moment auch, dass ich nicht immer da sein kann und sich ihr Bewegungsdrang meiner Kontrolle weitgehend entzieht.

loslassen lernen

An diesem Punkt werde ich gerade geprüft. Meine ich es ernst mit dem Empowerment? Lasse ich meiner Tochter den Spielraum, den sie sich nimmt oder darf sie nur dann so wild sein, wenn ich ihr enger Begleiter bin? Meine ich wirklich Selbständigkeit oder will ich bloss, dass sie meine Wildheit mit mir teilt? Und wenn ich zur Eigenständigkeit ja sage, kann ich trotzdem in der Verantwortung bleiben und nehme meine Pflichten als Vater wahr? Erziehung wird gerade dort für mich zum Wagnis, wo ich mich zurücknehme und raushalte, wo nicht ich der Lehrmeister bin und die Kontrolle habe, dort wo meine Tochter sich selbständig bewegt, Erfahrungen sammelt, hinfällt wieder aufsteht und lernt.

«Wir können das Verhalten unserer Kinder nicht kontrollieren, aber wir sollten sie wissen lassen, wie wir dazu stehen.»
Jesper Juul

Risiken und Nebenwirkungen

„Risiken zeigen sich oft an Orten, wo wir sie nicht erwarten“, erzähle ich in erlebnispädagogischen Weiterbildungen gerne, wenn es um Fragen der Sicherheit geht. Es sind nicht die vermeintlichen Gefahren, die uns letztendlich überraschen, das Wagnis ist etwas „Privates“, es erwischt dich dort, wo es dich betrifft, dort wo du dazulernen kannst. Ich lerne gerade im Spannungsfeld zwischen Handeln, also z.B. Auffangen, und Gesche- hen lassen, also meiner Tochter Beulenerfahrungen zu ermöglichen. Lernen schmerzt bekanntlich immer ein Bisschen. Wem gehört diese Beule nun eigentlich…?

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