Das Spiel der Kräfte

Nirgends sonst begegnet mir die Dynamik von Kräften deutlicher als im Unterwegssein in der Natur. Draussen komme ich in direkten Kontakt mit diesen unterschiedlichen Energien. Ohne schützendes Dach, dicke Mauern, Türen und Fenster erlebe ich mich als dem Leben ausgesetzt, muss es an mich heranlassen. Geburt und Tod begegnen mir auf Schritt und Tritt. Das junge Leben kommt mir in der Blume entgegen, die zum ersten Mal ihr Gesicht der Sonne entgegenstreckt. Das Sterben sehe ich im Herbstblatt, welches seine Farbe wechselt und den tragenden Ast loslässt … um wenige Monate später Grundlage für neues Leben zu sein.

Die Jahreszeiten in unseren Breiten inszenieren dieses Spektakel der Dynamiken des Lebens eindrucksvoll. Ihr Rhythmus ist ein wunderbares Beispiel für Werden und Vergehen, welches dem Leben zu Grunde liegt. Es ist ein einziger Prozess von Kommen und Gehen, von Wachsen, Gedeihen, Verwelken und sich Verabschieden. In der Natur wird mir bewusst, dass alles in Bewegung ist und Transformation das Grundprinzip des Lebens darstellt.

Dieses Spiel der Kräfte drückt sich in vielen Polaritäten aus. Tag und Nacht, Sonne und Schatten sind zwei Beispiele, die man draussen eindrücklich erleben kann.

Die Dynamik des Lebens zeigt sich aber nicht nur im Schauspiel der Natur, sondern treibt ihr Spiel auch im Innern. Glück und Leid, Freude und Schmerz gehören ebenso zum Tanz des Lebens.

Das chinesische Begriffspaar Yin und Yang steht für diese polar einander entgegengesetzten und dennoch aufeinander bezogenen Kräfte. Die Weltanschauung des Daoismus versucht zu erklären, dass sich diese dualen Kräfte oder Prinzipien nicht bekämpfen, sondern ergänzen. Die Lehre des Daoismus besagt, dass die Menschen den Lauf der Welt beobachten sollen. Dadurch werden sie die Gesetzmässigkeiten und Erscheinungsformen des Weltprinzips kennenlernen. Das Dao entspricht den Wirk- und Schöpfungsprinzipien, welche ich in diesem Artikel als «das Spiel der Kräfte» bezeichne.

So einfach und verständlich das alles klingen mag, so tiefgründig erscheint es mir. Die Aufklärung, der Kopf, das Rationale und die Vernunft tun sich mit mancher Spannung des Lebens schwer. Dieses bewegte Spiel wird in vielen Aspekten vom Menschen als grosse Zerrissenheit und unvereinbare Gegensätzlichkeiten erlebt. Die Bezogenheit der unterschiedlichen Energien ist nicht immer einfach anzunehmen in ihrer ganzen Spannung. Das Gehalten-sein und Getragen-werden in diesem Spiel erschliesst sich oft erst mit etwas Distanz und Offenheit.

Unser Mensch-sein – mitsamt Zerbrechlichkeit, Sterblichkeit, Endlichkeit, unseren Bedürfnissen und somit unserer Ängstlichkeit – ist oft überfordert mit diesem Kontrastprogramm. Wir ziehen aus dieser Perspektive sehr schnell das Eine dem Anderen vor. Diese Wertung macht das Spiel nicht selten zum Krieg. Es wird um das Eine gekämpft, das Andere bekämpft. Jung und Alt, Frau und Mann, reich und arm, krank und gesund sind Bespiele die verdeutlichen, dass es nicht so leicht ist gegensätzliche Lebensprinzipien als gleichwertig zu betrachten.  Und was als «Spiel des Lebens» daherkommt kann schnell zum Konflikt werden.

Das Leben ereignet sich zwischen Polen, bewegt sich in Dualitäten und ist ständiger Bewegung unterstellt. Geburt und Tod wirken andauernd ineinander hinein.

Für unsere sterbliche Spezies, den Homosapiens, mit einem hohen Bewusstsein für sich selbst und somit für die eigene Individualität ist das Leben in diesem Spannungsfeld überaus anspruchsvoll.

Wie verhalten wir uns in dieser Dramatik? Wo und wie geben wir uns diesem Spiel hin? Wo wehren wir uns? Wo braucht es Mut, Demut, Sanftmut, Übermut oder geht es gar darum, sich der Schwermut einfach hinzugeben?

Es ist gut zu wissen, dass sich das Leben im Spiel von grossen Kräften ereignet. Dass es dabei um Dynamik geht. Wir können von Bewegung und Prozess sprechen. – Vor allem geht es wahrscheinlich darum mit zu schwimmen, vieles so anzunehmen, wie es ist und nicht den eigenen Willen durchzusetzen. Hartmut Rosa spricht in diesem Zusammenhang von der Unverfügbarkeit. Das Leben ist nicht etwas worüber wir bestimmen können. Es ist uns Geschenk. Im besten Fall können wir uns darauf einlassen und uns von ihm berühren lassen … in aller Widersprüchlichkeit. Rosa spricht hier von Anrufbarkeit. Damit meint er, dass wir hörend, berührbar und offen sind. So treten wir mit dem Leben in einen Dialog, in eine Auseinandersetzung. Man könnte hier wieder von Spiel oder Tanz sprechen. Wenn wir uns aufs Leben einlassen, können wir mit unserem eigenen Leben eine Antwort auf dieses Geschenk sein. Bestimmt wird uns dieses Einlassen an Orte führen, wo ungeahnte Kräfte schlummern.

Sicher liegt auf diesem Weg ein Schlüssel in der Hingabe. Ich schaue genau hin, wende mich dem zu, was mir begegnet und lasse es geschehen. – Es beginnt zu regnen. Ich lasse ein paar Tropfen auf meine Haut fallen und nehme wahr, wie sich das anfühlt. Dann erst ziehe ich meine Regenjacke aus dem Rucksack. – Trauer steigt in mir auf. Ich stelle fest, dass ich versuche, sie durch Aktion zu verdrängen. Ich halte inne, gebe der Emotion Raum und höre, was sie mir sagen möchte. – Das Knie beginnt zu schmerzen. Ich lasse von meinen Plänen ab, umarme den Schmerz und lasse mich von ihm führen.

Das Leben ist verletzlich und vielleicht liegt gerade darin ein grosser Schatz versteckt. Die griechischen Götter haben aus dem Olymp auf die Menschen geschaut und sie um ihre Endlichkeit beneidet. Wie langweilig muss ein ewiges Leben sein!? Mit Haut und Haar in diesem Spiel des Lebens mitzutanzen ist wohl das Grösste, was es zu erleben gibt.

Reto Bühler

seit me schön
meint me o hässlech
u di guete sy nume guet
will di schlächte so schlächt sy

 so isch das, was isch
nume dür das, was es nid isch

liecht wär
nid ohni schwär
churz nid ohni läng
höch nid ohni töif
klang u ton
formen enand
nachhär
chunnt nach vorhär

nid mache, nid tue
lehre
z luege
wis chunnt
u wis geit
la lige
la wachse
la stah

 (wär nid nimmt
u nüt het
däm cha aus
gstole sy)

vo wäge DO
laotse: tao te king
mundart: balts nill

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