Prozessbegleitung und Polyvagaltheorie

Wie liebevolle Präsenz wirkt

von Andrea Zuffellato

zum Lehrgang Outdoor Coaching

Als Lehrtrainer für systemische Prozessbegleitung und Outdoor Coaching bin ich natürlich sehr daran interessiert, möglichst genau sagen zu können, was in der Praxis wirkt und was den entscheidenden Unterschied macht.

Wann ist eine Intervention besonders hilfreich?

Worauf gilt es in der Begleitung von Menschen zu achten?

Was wirkt wirklich?

Bei planoalto beschäftigen uns diese Fragen seit vielen Jahren. Wir haben Methoden gesammelt und weiterentwickelt, uns mit Theorien auseinandergesetzt und selbst geforscht, fortwährend in der Praxis erprobt und in den Leitungsteams reflektiert. Aus diesen lebendigen Suchbewegungen heraus haben vor gut 30 Jahren Habiba Kreszmeier und Hanspeter Hufenus die kreativ-rituelle Methodenpalette der Systemischen Erlebnispädagogik zusammengestellt und in dieser Tradition erforschen, entwickeln, verbinden und verweben wir weiterhin voller Leidenschaft und in der guten Absicht heilsame Lebensbewegungen zu unterstützen, menschliches Wachstum zu begünstigen und Entwicklungspotentiale zu erschliessen.

 

Als Begleiter strebe ich in meiner Arbeit nach nichts Geringerem, als danach, Lernerfahrungen und Naturerlebnisse zu ermöglichen, die zu «life-changing moments» für mein Gegenüber werden.

Im vollen Bewusstsein, dass solche Momente mit Hartmut Rosa’s Worten unverfügbar sind und bleiben und deshalb nicht willentlich herbeigeführt oder methodisch und didaktisch geplant und konstruiert werden können, bleibt diese Ausrichtung ein Leuchtstern für mein Handeln. Und ich bin jedes Mal tief berührt und voller Demut, wenn Lehrgangsteilnehmer:innen oder Coachees von solchen Erfahrungen erzählen. Es ist offensichtlich – unsere Arbeit bringt Menschen in tiefe Resonanzerfahrungen und begünstigt immer wieder profunde Transformation. Teilnehmer:innen erschliessen sich oft ganz neue Welten und beginnen ihr Wirkpotential zu entfalten.

Wir haben Methoden perfektioniert, an unserer Sprache gefeilt, gehirngerechte Lernsettings gestaltet, immer wieder und Schicht für Schicht auch an unserer eigenen Persönlichkeit gearbeitet, wir haben Tools erfunden, Führungskonzepte entwickelt und Ansätze kombiniert, Bücher gelesen, Artikel geschrieben, neue Weiterbildungen besucht… All dies hat uns weit gebracht und doch möchte ich hier eine so naheliegende Qualität beleuchten, die für die Wirksamkeit unserer Arbeit so entscheidend ist. Ich habe mittlerweile diese Qualität als ursächliches Motiv erkannt, das mich überhaupt an meinen heutigen Wirkungsort gebracht hat. Es zeigt sich mir im ganzheitlichen und körperorientierten Lernverständnis von planoalto, im Selbstverständnis der Natur als unserem favorisierten Wirkungsort sowie dem Verständnis der Natur als lebendiges Gegenüber und eben auch in der Liebe zu den Menschen, ihren Geschichten und Lebenswegen, ihrer Lebendigkeit und Einzigartigkeit.

Der Begriff «liebevolle Präsenz» ist mir in der Auseinandersetzung mit der Polyvagaltheorie begegnet und was dort darunter beschrieben wird, passt nahtlos zu meinem Erfahrungsschatz als Prozessbegleiter wie auch in unser Theoriegebäude bei planoalto.

Die Polyvagaltheorie beschreibt das menschliche System, das für die Erkennung von Gefahr und Lebensgefahr sowie für Sicherheit und dadurch auch für soziale Verbundenheit zuständig ist. Nur wenn wir Sicherheit signalisiert bekommen, können wir uns entspannen und die wichtigen Funktionen des Immunsystems sowie der neuronalen Netzwerke, die für Lernen zuständig sind, werden freigeschaltet. Das heisst, dass wir nur in einem Zustand von Sicherheit lernen und uns entwickeln sowie physisch und psychisch heilen können. Stephen Porges hat deshalb pointiert: “Sicherheit ist die Therapie.“

Reize aus der Umgebung werden gemäss der Polyvagaltheorie in einem Prozess, der sich Neurozeption nennt, unbewusst, superschnell und permanent analysiert.

Die Neurozeption von Sicherheit reagiert besonders auf freundliche Mimik und Sicherheit signalisierende Gesten und Körperhaltung, freundliche Stimme, Humor und achtsame Berührung.

 

Die Haltung oder besser, der Seinszustand der in der Polyvagaltheorie mit liebevoller Präsenz beschrieben wird, aktiviert auf eine sehr subtile, bedingungslose und dadurch auch niederschwellige Art und Weise das Gefühl von Sicherheit beim Gegenüber und dadurch auch das System für soziale Verbundenheit. Dadurch können die internen Schutzmechanismen von Freeze, Flight and Fight runtergefahren werden und so werden «life changing moments» überhaupt erst möglich.

Wenn sich zwei Menschen in unterschiedlicher Verfassung begegnen, versetzt gemäss der Polyvagaltheorie immer derjenige von beiden, der in seinem Zustand am längsten verharrt, den anderen zwangsläufig ebenfalls in diesen Zustand. Aus diesem Grund ist es derart essenziell, als Begleiter:in bei sich und in der Zuversicht zu bleiben und eine ausstrahlende, liebevolle Präsenz zu entwickeln.

 

Otto Scharmer zitiert oft Bill O’Brien von dem die Aussage stammt: “Der Erfolg einer Intervention hängt von der inneren Verfasstheit des Intervenierenden ab.“

Wenn diese innere Verfasstheit liebevolle Präsenz umfasst, wird vieles möglich… Wie die Polyvagaltheorie erklärt, spüren Menschen Sicherheit viszeral, ohne es bewusst wahrzunehmen. Wenn ich diese Qualität wirklich verkörpere und standhaft bleibe, dann wirken meine Wertschätzung und Zuversicht ansteckend und mein Gegenüber kommt mehr und mehr in einen Zustand von Sicherheit, sozialer Verbundenheit und damit in den Möglichkeitsraum der Transformation und des Wachstums.

 

Pat Ogden beschreibt liebevolle Präsenz im Herausgeberband zur klinischen Anwendung der Polyvagaltheorie als Seinszustand: “… angenehm, gut für die Gesundheit und an und für sich bereichernd. Es handle sich um einen Zustand, in dem man sich offenherzig und wohlwollend fühlt. In seiner reinsten Form wirkt er spirituell nährend und ist sensibel für Feinheiten.
Liebevolle Präsenz anerkennt laut Pat Ogden implizit die Würde des menschlichen Geistes und bereitet dem Mitgefühl den Weg, so dass sich ein Gegenüber sicher fühlen kann. Verkörperte liebevolle Präsenz scheint eine bestimmte «Art zu sein» zu erzeugen, und dieses Sein, nicht Tun, ist die Essenz der Heilung.
Verkörpern Begleiter:innen liebevolle Präsenz, erreichen ihre Klient:innen entsprechende Signale, etwa ein sanfter Ausdruck oder eine sanfte Prosodie, und sie fühlen sich verstanden und in Sicherheit. Ist dies der Fall, hat Heilung schon eingesetzt.“

 

In der Begleitung von Menschen gilt sicher die Maxime: “man muss Menschen mögen“, der Begriff liebevolle Präsenz beschreibt aber auch noch die zurückhaltende Haltung, die wir auch von der “abstinenten Führungshaltung“ her kennen und die es laut der Polyvagaltheorie auch für die Prozessbegleitung braucht.

Bonnie Badenoch beschreibt, was geschehen kann, wenn ich mich zu sehr auf mein methodisches Vorgehen konzentriere: “Wenn ich die Türe öffne, um einen Klienten zu begrüssen, und ich habe meine eigenen Vorstellungen darüber mit welchen Techniken ich diesem Menschen am besten helfen kann, ist mein ventral-vagaler parasympathischer Zustand wahrscheinlich ausser Funktion (durch die Dominanz meiner linkshemisphärischen Gehirnaktivität, der das Wir-Gefühl fehlt), weshalb mein Klient das Gefühl entwickelt, seine Sicherheit sei nicht gewährleistet…“

Liebevolle Präsenz fordert per se nicht und will auch nicht etwas steuern oder kontrollieren, eher hält sie den Möglichkeitsraum und bietet Hand, ohne selbst zuzupacken. Damit wird sie der bereits angesprochenen Qualität der Unverfügbarkeit des Lebendigen gerecht.

Diese Bedingungslosigkeit heisst aber nicht Gleichgültigkeit oder Willkür und sie geschieht auch nicht einfach so. Es braucht Arbeit an sich selbst, um Qualitäten wie Zuversicht, Wertschätzung und Liebe zum Lebendigen in sich zu etablieren und zu hüten, gerade wenn es nicht so läuft, wie ich mir das vorgestellt habe oder gerne hätte. Und es ist zeitweilens durchaus anspruchsvoll, die Präsenz in einer Begleitung zu halten, wenn die volle Agenda anklopft oder andere innere und äussere Dringlichkeiten ablenken.

Laut der Polyvagaltheorie können folgende, nonverbale Signale dem Gegenüber Sicherheit vermitteln: die Prosodie (Eigenschaft des Sprechens wie Akzent, Betonung, Sprechpausen, Rhythmus, Tempo), ein sanfter Gesichtsausdruck, ein sanfter und direkter Blick, eine offene und vorgelehnte Körperhaltung und ein auf das Gegenüber eingestimmter Aufmerksamkeitsfokus.

Ron Kurtz beschreibt im bereits erwähnten Herausgeberband: “Mein erster Impuls zielt darauf, im Gegenüber etwas zu finden, das ich lieben kann, etwas, das mich inspiriert, etwas Heroisches, etwas, das als Geschenk und die Last des menschlichen Zustandes erkennbar ist, als der Schmerz und die Anmut, die bei jedem, dem wir begegnen, existiert.“

 

Wir können liebevolle Präsenz für uns zugänglich machen und vertiefen, unsere eigene Körperwahrnehmung schulen und auf diese körperlich steuerbaren Signale achten und sie etablieren. Sie helfen uns selbst in den Zustand einer liebevollen Präsenz zu kommen und darin zu bleiben. Wir können unsere Zuversicht wie einen Muskel trainieren, weil wir sie immer brauchen werden. Wir können unseren Humor pflegen, denn wie Michael Bohne pointiert. “Humor können wir gar nicht ernst genug nehmen. Denn wo (neurologisch gesehen) Humor ist und gelacht werden kann, kann keine Gefahr sein.“

Manchmal hilft es auch schon, den eigenen Wortschatz zu erweitern, denn, (nur) was wir benennen können, können wir auch sehen und erkennen.

 

Im Outdoor Coaching und der Prozessbegleitung in der Natur hilft mir die lebendige Umgebung durch permanente Interaktionen wie ein Windhauch, wärmende oder blendende Sonnenstrahlen, ein singender Vogel oder ein vorbei schwirrendes Insekt bewusst im Moment zu sein und es fällt mir in der Natur besonders leicht, mich mit einer fliessenden und bedingungslosen Liebe zu allem Lebendigen zu verbinden.

In der Reflexion waren es oft Prozesse, in denen diese liebevolle Präsenz besonders stark war, die für meine Coachees wirkstark und lebensverändernd waren. Wobei es oft nicht einmal meine liebevolle Präsenz als Begleiter alleine war, sondern immer wieder auch das liebevoll präsente Feld einer ganzen Gruppe. Und manchmal kam mir vor, als seien die windzerzauste Wettertanne, die still dasitzende Amsel oder das sich weit ausbreitende Meer selbst liebevoll präsent und auf diese Weise unterstützend für den Prozess.

 

Ich schätze ein erlernbares Handwerk, griffige Theorien und schlüssige Methoden, mir ist aber auch klar, dass ich selbst immer mein “wirkungsvollstes Instrument“ bin, deshalb gehören Weiterbildung, Persönlichkeitsentwicklung und Haltungsschulung zu meinen professionellen Routinen. Liebevolle Präsenz lässt sich aber eher durch Achtsamkeitspraxis vertiefen, durch gelebte Spiritualität und die ganzheitliche Pflege von Körper, Geist und Seele. Dafür braucht es Freiräume, Leere und Musse und nicht mehr Weiterbildungen und Lesestoff. Bodo Jansen hat mal gesagt: “hör auf zu glänzen und beginne zu strahlen“. Dieses Bild kommt mir dazu in den Sinn.

Ich freue mich, den Begriff «liebevolle Präsenz» in meine Wortschatztruhe aufzunehmen und dass ich ihn mit so vielen Geschichten und Erlebnissen verknüpfen kann. Er wird mich bestimmt eine Weile begleiten. Er wird mich daran erinnern, ebenso auf mich zu schauen und mit mir umzugehen, Resonanzerfahrungen im Alltag zu feiern und immer wieder achtsam zu sein.

Und natürlich, das Lernen geht weiter und damit die Suchbewegung nach Wirksamkeit im Dienste lebensbejahender Entwicklungsprozesse. Ich freue mich schon.

 

Literatur:

Stephen W. Porges und Deb Dana: Klinische Anwendungen der Polyvagal-Theorie. 2018, Probst Verlag
Stanley Rosenberg: Der Selbstheilungsnerv. 2023, VAK
Martin Grunwald: Homo Hapticus. 2017, Droemer
Michael Bohne: Psychotherapie und Coaching mit PEP. 2022, Carl-Auer
Antonia Pfeiffer: Emotionale Erinnerung – Klopfen als Schlüssel für Lösungen. 2022, Carl-Auer

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