erschienen im: Online-Magazin human nature, No.1, August 2011.
Odysseus, Parzival und die Regentrude. Traditionellerweise beschreibt das Lernzonenmodell den Protagonisten als mehr oder weniger mutigen Helden, der auszieht aus seiner sicheren und bekannten Heimat, in fernen Ländern seine Abenteuer erlebt und im besten Fall reich an Erfahrungen und Beutestücken zurück kehrt. Der „Lerngewinn“ liegt in diesem Fall also praktisch ausschliesslich in der Hand des Individuums. Nur wer wagt, gewinnt. Diesem Konzept und Lernverständnis möchte ich die Thesen zur Seite stellen, dass Lernen und damit Grenzzonenerweiterungen auch durch Kontexte und Interaktionen genährt werden. Schliesslich möchte ich die Frage in den Raum stellen: Hat die Grenze gar ein Eigenleben?
Nicht selten sind wir in unseren Lernwegen verstrickt und vernetzt in interdependente Interaktionsgeschehen und unser Lernen ist mindestens so abhängig von anderen Menschen, wie deren Lernen von uns abhängt. Das subjektive und mitunter auch das ganz konkrete Risiko einer Unternehmung wechseln schlagartig mit der Zusammensetzung des „Expeditionsteams“. So kann sich bei einer in Schnee und Nebel verirrten Gruppe eine plötzliche Entspannung und das Gefühl von gerettet sein breit machen, wenn ein lokaler Bergführer dazu stösst.
Oder es kann eine Schülergruppe verunsichern, wenn bestimmte Schüler zur Gruppe dazugehören sollen oder gerade nicht… Unser Sicherheits- und Wohlbefinden ist nicht bloss von körperinternen Zuständen und Gleichgewichten abhängig, sondern auch und ganz massgeblich von psychischen Befindlichkeiten — und diese wiederum sind eng gekoppelt an die uns gerade zur Verfügung stehenden Interaktionen und Beziehungen.
So sind die meisten Risiken, welche Lernende eingehen eher psychologischer Natur und die Konsequenzen und Gefahren dieser Risiken finden wir in der möglichen Veränderung der Beziehungsqualitäten und der Anzahl und Anordnung der möglichen Interaktionen. Das Risiko, ausgelacht, für dumm, unmodern oder feige erklärt zu werden, ist viel bedrohlicher als etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen. Vor wirklichen physischen Schäden sind wir in der Regel ohnehin mehrfach geschützt und versichert. Als Lernbegleiter lohnt es sich, neben dem Schwierigkeitsgrad eines Risikos auch die aktuelle Interaktionschoreografie der Lernenden zu berücksichtigen. Die gemeinschaftsbildenden Erfahrungen erlebnispädagogischer Settings haben somit das Potential, Komfortzonen zu stärken und zu erweitern oder Wagnisse zu begünstigen.
Heute hier und morgen dort ist das Risiko nicht dasselbe. Unsere Wahrnehmung und unser Empfinden sind abhängig von Zeit und Raum. Der Kontext prägt das Geschehen, wobei der Kontext über die Qualität und Quantität der vorherrschenden Interaktionen hin- ausgeht. Raumphilosophische Ansätze gehen davon aus, dass Emotionen und Handlungsimpulse auch aus dem Raum evozieren und die Menschen ergreifen und überkommen können. Dieser Standpunkt relativiert die Dominanz des Protagonisten über den Lauf der Geschichte noch weiter als das Verständnis interdependenter Vernetztheit und des Menschen als eingebundenes Individuum.
Denn auf meine Beziehungen kann ich immerhin noch einwirken, ich kann Kontakte pflegen. Der Raum entzieht sich meinen Einflussmöglichkeiten mehrheitlich. Oft kann ich den Raum nicht einmal wählen in den ich mich begebe oder durch den ich mich bewege. Ich kann ihn allenfalls mit gestalten und dies ist schon viel.
Wie der Raum Einfluss auf mein Wahrnehmen und Entscheiden ausübt, ist prozessual erklärbar und doch teilen viele Menschen die Erfahrung, dass sie an bestimmten Orten mehr Mut oder Angst, mehr Selbstvertrauen oder Zweifel, mehr Verbundenheit oder Isolierung empfinden. Wagnisse sind daher geprägt von der Individualität des Protagonisten sowie von seinem Umfeld bestehend aus Menschen und dem Raum. Fragen nach der Verortung der Komfort- und Risikozonen im aktuellen (Natur-)Raum gewinnen an Bedeutung und Lernbegleiter werden aufgefordert die Lernräume bewusst zu wählen und zu gestalten. Die Natur als Lernraum bietet immer neue Möglichkeiten, Facetten und Wirkungsweisen für das Erleben und kann so als aktive Partnerin in den Lernprozess miteinbezogen werden.
Unter diesen Prämissen wird deutlich, dass persönliche Grenzen nicht als statische virtuelle Wirklichkeiten existieren, sondern viel eher den Charakter einer lebendigen diffundierenden Membran haben. Meine Grenze ähnelt einem Spannungsfeld, welches sich verändert je nachdem, wo ich mich befinde und mit wem ich vernetzt bin. Nicht nur der Protagonist über- windet als Akteur seine Grenze und erweitert dadurch seine Komfortzone, es sind auch die Mitmenschen, die ihrerseits das Wahrnehmen, Empfinden und Handeln des Protagonisten mitprägen, die ihm Komfort bieten oder ihn in Wagnisse katapultieren.
«Der Raum ist der dritte Pädagoge.»
Loris Malaguzzi
Weiter besteht auch ein Zusammenhang zwischen dem Protagonisten und dem Raum in dem er sich befindet oder durch den er sich bewegt. Diese Sichtweise entkräftet die Heldengeschichten, Märchen und Monomythen nicht, sie gibt ihnen mehr Farben und Facetten. Odysseus wird vielleicht als alleinige Hauptperson etwas entthront, dafür erhält er eine Mannschaft, eine Frau, Helfer und Antagonisten zur Seite, die sein Handeln mit beeinflussten sowie eine lebendige Bühne, Meeresengen, Strände und Berge, die ihn ergreifen und in die er sich hineingeworfen wiederfindet.
Mein eigenes Wagnis, mein Komfortbereich und meine Risikozonen werden allenfalls etwas relativiert, doch ich brauche deshalb nicht weniger Mut, die Prüfungen meines Lebens zu bestehen. Meine Grenze lebt und sie verbindet mich mit der Welt.