Der Homo sapiens hat sich aus guten Gründen mit Mauern, Kunststoffen und anderen Mitteln von der Natur zunehmend abgegrenzt. Komfort und Konsum können aber die Entfremdung von natürlichen Zyklen nicht aufheben und so entdecken wir, dass nicht nur die äussere Natur in Schieflage geraten ist, sondern auch unsere innere.
Verbundenheitserfahrungen in der Wildnis schaffen da einen Ausgleich. Wie gelingt es uns aber nachhaltig, diese Kluft zu überwinden? Um dieser Frage nachzugehen, um unserer Suche nach einem Leben in Resonanz und Präsenz Ausdruck zu verleihen und gesellschaftlichen Wandel anzuregen, gestalten wir dieses Impulstreffen. Wir stärken den Kontakt zum Wilden, Feinfühligen, Lebendigen in uns. Wir machen uns mit dir auf den Weg und lassen uns beim gemeinsamen Wandeln von unterschiedlichsten Räumen inspirieren.
«Wildes leben anstatt wildes Leben.» – Ein philosophischer Exkurs von Stefan Held.
Stefan: Lieber Reto, gerne würde ich mit dir rund um die Themen der Tagung «Wildes Wandeln» in einen Austausch gehen. Wir können frei Fragen stellen, philosophieren, rückfragen, persönlich und fundiert Bögen spannen, Ebenen wechseln… alles, was interessiert und interessieren könnte.
Wir haben uns mündlich wiederholt über die Kluft zwischen Kultur und Natur unterhalten und über die Frage, inwiefern es diese überhaupt gibt, bzw. wie diese zu überbrücken sei. Bevor wir uns tiefer mit diesem diffusen Gefühl der Entfremdung auseinandersetzen, nimmt mich Folgendes wunder: Inwiefern bist du persönlich in deinem Leben mit einem Riss, einer Kluft oder wenigstens einer Lücke konfrontiert? Und wie gehst du damit um?
Reto: Lieber Stefan, ich habe aktuell zwei Wohnsitze. Der eine ist ein selbstgebautes Tiny-Haus auf Rollen auf der Schweibenalp, einem wunderbaren Naturraum. Hier betreibe ich zusammen mit einer Gemeinschaft einen Seminarbetrieb und ein alpines Permakultur-Projekt. Der andere Ort ist die selbst neu gebaute Jagdhütte meines Grossvaters. Im Wagen habe ich kein fliessendes Wasser. Auf der Hütte habe ich keinen Strom. Ich heize an beiden Orten mit Holz. – Ich bin erstaunt darüber, dass ich die Stadt und damit auch eine bestimmte Kultur echt vermisse. Genauer gesagt sind es auch nur gewisse Aspekte der Stadt; Kaffees (obwohl ich selten hinein gehe und darin Zeit verbringe), das Velofahren (obwohl ich mich dann doch meist zu Fuss bewege), grosse Bio-Läden, Kunst, Architektur, bunte Menschen, geschäftiges Treiben, das Schauen und Staunen … die Vielfalt und Lebendigkeit. – Ich habe Kultur jetzt mit Stadt in Verbindung gebracht. Was verstehst du eigentlich unter Kultur?
Stefan: Bei mir ist es genauso, dass ich Kultur als ersten Reflex mit Stadt und Zivilisation gleichsetze. Sowieso, wenn man von diesem Gegensatz von Kultur und Natur spricht. Bei genauerem Hinschauen verstehe ich unter Kultur aber etwas ähnliches wie «Psyche». Dieser Begriff umschreibt ja Tiefenstrukturen und Bewegung des subjektiven Erlebens eines Menschen, die nichtstoffliche Innenseite. Und diese ist von der Aussenseite, dem was sich körperlich und im Verhalten zeigt nicht abtrennbar. Kultur umfasst für mich diese Innenseite auf der kollektiven Ebene. Diese Innenseite bezieht sich auf gemeinsame Wertesysteme, eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Wahrnehmungen und Reflexe. Und diese kulturelle, kollektive Innenseite drückt sich dann aus in der Gestaltung und Nutzung von Gegenständen, Kleidung, Bauten, Verhalten, Riten und so weiter. So bezieht sich Kultur auf eine primär menschliche Wahrnehmung. Etwas zu kultivieren bedeutet dann, ihm unseren kulturspezifischen Stempel aufzudrücken oder es unseren menschlichen Bedürfnissen anzupassen. Ironischerweise scheint die Stadt, die eine ultimativ vom Menschen geschaffene Umgebung darstellt, gewisse menschliche Bedürfnisse unzulänglich abdecken zu können.
Mit dem riesigen menschlichen Einflussbereich auf die Biosphäre unseres Planeten stellt sich zudem die Frage, wie eine Kultur aussehen könnte, die auch nichtmenschliche Bedürfnisse und Perspektiven anerkennt und miteinschliesst.
Reto: Da komme ich jetzt nicht ganz mit. Ich muss einmal von Grund auf buchstabieren.
Aus der Sicht von Wikipedia zählt zu Kultur alles, was von Menschen geschaffen oder gestaltet wurde. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und ist an Landwirtschaft und Ackerbau angelehnt.
Von dem her unterscheiden sich die Begriffe Natur und Kultur sehr deutlich.
Interessant finde ich den Aspekt, dass der Mensch sich heute aus meiner Sicht nur noch beschränkt als Natur wahrnimmt. Er sieht sich eher als «Kultur-Objekt». Damit meine ich, dass er den Eindruck hat, sich selbst gestaltet zu haben … bis hin zu sich selbst geschaffen.
An dieser Stelle wäre es interessant, sich mit ein paar Schöpfungsmythen auseinander zu setzen.
Wenn der Mensch als Natur gesehen würde, dann hätte jede kulturelle Errungenschaft natürliche Wurzeln und wäre somit Teil der Natur … einfach einmal durch die Hände dieser natürlichen Species gegangen.
Nun, die Tagung heisst ja «Wildes Wandeln» und möchte sich dieser Kluft zwischen Kultur und Natur widmen. Mir kommt da Hartmut Rosa in den Sinn. Er sieht in der heutigen Zeit das grösste Problem in der fehlenden Resonanzfähigkeit. Ich glaube, genau an diesem Punkt möchten wir mit dem wilden Wandeln ansetzen. Wir möchten einen Beitrag leisten, dass Menschen beginnen hinzuhorchen, stehen zu bleiben, bei sich anzukommen und anrufbar zu werden. Anrufbar in dem Sinne, dass wir uns wieder mehr für das Leben öffnen, in Kontakt treten mit dem, was uns umgibt, was uns begegnet. Durch die Digitalisierung haben wir sehr vieles in unsere Reichweite geholt. Wir können mit jedem Menschen jederzeit Kontakt aufnehmen, alle Musik der Welt hören und Tag und Nacht einkaufen. In all dieser Verfügbarkeit und dieser Fülle von Informationen und Zugängen kommt das Hier und Jetzt, das uns Umgebende, der aktuelle Moment und vor allem das Hören zu kurz. Anrufbar werden und mit dem eigenen Sein eine Antwort auf die Begegnung mit dem Leben zu werden. Dabei kann sicher der Körper einen Beitrag leisten. In vielen spirituellen Traditionen und Therapien ist er das Eintrittstor in den Moment, in die Gegenwart.
Stefan: Das Körperliche ist da sicher zentral, denn mit dem Körper sind wir notgedrungen immer im Hier und Jetzt. Und dennoch hat er in der westlichen Kultur lange einen schweren Stand gehabt.
Kultur kann auch betrachtet werden als eine menschliche Bemühung um Ordnung und Kontrolle. Das Wilde und Natürliche bedeutet Kontrollverlust. Wir können davon ausgehen, dass es ein tiefes kollektives Trauma in der menschlichen Psyche gibt. Als Jäger und Sammler war der Homosapien in vielen Gebieten beinahe ausgestorben, weil er gegen Ende der letzten Eiszeit erste Arten des Grosswilds ausgerottet hatte. Aus dem Mangel heraus entwickelte er Landwirtschaft und Ackerbau und erlangte eine wackelige Kontrolle über die Natur. Möglicherweise lebt eine fortdauernde Kränkung unserer Spezies fort, da wir von der «Mutter Natur» ungenügend versorgt wurden. In der Antike wurden Naturgottheiten zu menschlichen Gött:innen, die im Mittelalter zu einem abstrakten Gott wurden. Die Natur im Menschen, alles Körperliche wurde dämonisiert, was auch die Aufklärung nicht aufhob, sondern sogar noch vertiefte, da ab nun auch die Vernunft über die Emotion zu regieren hatte. Mit zunehmender technischer Machbarkeit wuchs die Hoffnung auf ein total kontrolliertes und geordnetes Leben, das heute in der Manipulation des Körpers und der Selbstdarstellung auf Social Media mitunter seltsame Früchte trägt.
Was ich damit sagen möchte: Der Mensch hat im Angesicht des Todes um Kontrolle gerungen. Die Natur unterwerfen (und schützen) zu können bedeutet Kontrolle. Wen ich anrufbar werde und mich dem «Mehr-als-Menschlichen» öffne – den Geschöpfen der Natur, aber auch dem eigenen Körper – dann gebe ich ein Stück meiner Kontrolle ab. Resonanz bedeutet dann Kontrollverlust. Aber was ist denn der Gewinn, wenn wir mit dem Körper und der Mitwelt verbunden sind?
Reto: Auf deine philosophischen und menschheitsgeschichtlichen Gedanken steige ich gerne ein.
Mit dem Ausblick darauf, dass wir eine Veranstaltung machen mit dem Titel «Wildes Wandeln», frage ich mich, wo das Wilde geblieben ist. Wilde Naturgottheiten haben kultivierten Göttern das Zepter übergeben. Menschen sind daran, global die Wildheit der Natur auszutreiben. Sie kanalisieren, stauen und verbauen. Wildbäche werden systematisch ausgerottet. Sie sollen, wie alles auf der Welt, kontrollierbar werden.
Um auf deinen Gedanken der Kontrolle der eigenen Gedanken, Emotionen und des Körpers zurückzukommen, bringe ich den ganzen Selbstoptimierungswahn ins Spiel. Der Self-made-man ist ein Anschauungsobjekt für diese Bewegung. Wobei der sich selbst entwickelte und geformte Mann gerade darauf hinweist, dass es um patriarchale Bewegungen geht. Wir haben es aktuell immer noch mit aufstrebenden Energien zu tun: Weiter, höher, schneller. An dieser Stelle benutze ich lieber die Begriffe Yin und Yang, als weiblich und männlich. Sie sind neutraler und weniger auf die Geschlechter bezogen. Die beiden Kräfte, Yin und Yang sind einander entgegengesetzte, also gegensätzliche Kräfte, welche aber aufeinander bezogen sind, sich nicht bekämpfen, sondern sich ergänzen. (Hier könnte man das Symbol einfügen.)
In Bezug auf die Wildnis fände ich es spannend, wenn sich die Begriffe Kultur und Natur annähern und ergänzen könnten. Die Natur repräsentiert für mich in diesem Sinne das Wilde, das willkürliche, ungeordnete, lebendige Leben. Unter den Begriff Kultur würde ich das Kontrollierte, das Geordnete, das Geschaffene, die Errungenschaften des Menschen, die Kunst, die Wissenschaft, die Religion einordnen.
Wie können wir mit dem Wilden Wandeln dazu beitragen, dass sich das Wilde und das Kultivierte, die Natur und das vom Menschen Geschaffene annähern, sich verbinden?
Stefan: Wohl nicht, indem wir uns mitten in die Wildnis setzen und auch nicht, indem wir dieses Thema von Mauern umschlossen diskutieren. Am besten verbinden wir diese scheinbaren Polaritäten, indem wir uns in ihnen physisch bewegen. Vielleicht von der Stadt ins Land oder umgekehrt. Eine Bewegung. Ein äusseres und – wenn es gelingt – ein inneres Wandeln. Um dieses Gelingen wahrscheinlicher zu machen, ist es wohl gut, den Tag thematisch aufzuladen. Ein Input. Körper- und Wahrnehmungsübungen. Räume für Austausch und Stille. So in diese Richtung.
Vor allem müssen wir ergebnisoffen darangehen, sodass wesentliche Aussagen Gehör und Gewicht bekommen können. Dass wir das Wilde nicht mit zu viel Form und Planung ersticken. Was denkst du dazu? Ich finds aufregend!
Reto: Deine Gedanken zur Tagung finde ich sehr schön. Sie inspirieren mich und regen mich auch an. Ich gespannt!
Zeit:
10.00 – 17.00 Uhr
Preis:
CHF 145.00
Format:
Die Veranstaltung findet drinnen, draussen und unterwegs statt, für Verköstigung wird gesorgt sein.
Das Team von planoalto heisst dich bei einem Snack “Dort” (Ort noch unbekannt) willkommen.
Ein Gastimpuls von Christina Pürgy, verschiedene Handlungsimpulse und Räume zur gegenseitigen Inspiration sind darauf ausgerichtet, sich mit dem Verhältnis von Kultur und Natur auseinanderzusetzen.
Wir freuen uns auf dich und das gemeinsame wilde Wandeln.
Christina studierte in Salzburg, Groningen (NL) und Totnes (GB) Kommunikationswissenschaft und Psychologie und vertiefte sich über die Jahre mit Lehrgängen zu ökosozialem Gesellschaftswandel kreativ-ritueller Erlebnispädagogik und Kulturmanagement.
Heute ist sie als sozial-ökologische Kulturarbeiterin, systemische Prozessgestalterin und Wandel:pädagogin aktiv.
Mit Fokus auf Tiefe Ökolgie als „Arbeit, die wieder verbindet“ führt sie «GAIAs Stadthäuschen» im Herzen von Salzburg, von wo aus sie Bildungsprojekte lanciert, künstlerisch vernetzend wirkt und mutig experiementiert. Hier entstehen Empowerment-Formate rund um wahrnehmende Kultur- und Communityarbeit, nachhaltige Alltags- und Erddemokratie sowie DEEP TIME Klang- und Spazier-Performances etc.
Ich habe den Lehrgang Systemische Erlebnispädagogik oder Kreativ-rituelle Prozessgestaltung, wie er damals noch hiess 2010-2012 besucht. Hier konnte meine Entwicklungsvision gedeihen und ihr habt mir das systemische «Wildnis»werkszeug vermittelt um – gestärkt mit praktischen und emotionalen Kompetenzen – dem Ruf der „Arbeit, die wieder verbindet“ aktiv zu folgen und ihn weitertragen zu können.
Verzaubert hat mich die Magie des Verstehens und Verstandenwerdens, die sich einstellt, wenn Räume und Prozesse intuitiv und doch absichtsvoll verdichtet werden und dadurch ein vertieftes Verständnis eintreten kann. Ich erlebte Entwicklungs-Metaphorisierung von Bewegungen und Stillstand, Körper-Landschaften und Ökosystemen und die Zeit als behebammende Kraft des lebendigen Lebens.
Mein Leben hier in Salzburg scheint auf den ersten Blick recht zahm und urban. Aber was ich tue, und vor allem wie ich mit meiner Mitwelt in Kontakt gehe, sie wahrnehme, (re)agiere und experimentiere, das verstehe ich als „wild und wandelnd“.
Projekte, an denen ich teilnehme und die ich mitgestalte; Arbeitsplätze an denen ich mitwerkle; Teamprozesse, die ich mitforme – und beileibe nicht immer als gebuchte „Prozessgestalterin, sondern oft als „Eine unter Vielen“ – all das versuche ich aus den Augen der Natur, ihren Kooperationen und Symbiosen, als eingebettete und verwobene Zyklen des mehr-als-menschlichen Lebens zu begreifen, zu verdeutlichen und zu nutzen.
Ganz besonders schätze ich an der Kombination dieser Erkenntnis-Flüsse und Methoden-Strömungen ihre bild- und geschichtenhafte, interkulturelle, generationenverbindende, kulturübergreifende Kommunikation. Dies ermöglicht eine Welt, in der man alles sein und verbinden kann, ohne „falsch zu liegen“: kreativ, wissenschaftlich, rituell, strategisch, transzendent, materiell, sakral, egal…